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Archiv-Artikel

So weit, so leer, so arm

AUS ARJEPLOG REINHARD WOLFF

„Viele Familien leben mittlerweile allein davon, dass sie ihre Häuser an die Autofirmen vermieten.“ Erzählt bei Waffeln mit Multebeersahne Ina vom Café neben dem Touristenbüro: „Sie leben in dieser Zeit im Wohnwagen.“ Arjeplog im nordschwedischen Binnenland, 60 Kilometer südlich des Polarkreises. Auf einer Fläche von der Größe Belgiens verlieren sich in dieser Gemeinde 3.200 Menschen. Es ist Anfang Mai, draußen fällt Neuschnee und es hat Minustemperaturen. Arjeplog ist eine nordschwedische Erfolgsgeschichte. Europas Autofirmen testen hier auf Schnee und Eis ihre neuen Modelle auf Wintertauglichkeit. Vier Monate im Jahr wächst die Einwohnerzahl durch Testfahrer und anderes technische Personal um ein Drittel an. Für diese Saison sind sie gerade wieder abgezogen. Einige ruhige Wochen stehen an, bevor die ersten TouristInnen auftauchen. Und sich wundern werden, warum man hier eine Jugendherberge findet, die Einzelzimmer mit Satelliten-TV im Raum bietet. Mit französischem TV5 und deutschem DSF einprogrammiert. Ihre eigentliche Saison ist im Winter. Als Testfahrer-Hotel.

Das, was sonst als Handikap Nordschwedens gilt, sind für die Autotester seine großen Vorteile: Einsamkeit, Eis, Schnee, extreme Wetterverhältnisse. „Die Abgelegenheit, die Mercedes sucht, wenn es seine neuen Prototypen testen will“, weiß Gemeinderat Albert Lestander: „Ich möchte gar nicht daran denken, wie es ohne die Autotester aussehen würde.“ In Arjeplog hatte man eher moderne IT-Infrastruktur als in südschwedischen Städten. Weil die winterlichen Gäste das wollten. Auf dem Provinzflugplatz landen die Jets direkt aus Deutschland und Frankreich. Und sogar das örtliche Gymnasium hat überlebt. Es bietet eine landesweit einzigartige Autosystem- und Technikausbildung.

Arjeplog ist ein Ort, auf den man in Stockholm gerne verweist, fragt man nach Beispielen für gelungene Neuansätze im sich entvölkernden Nordschweden. Cluster nennt man das in den Amtsstuben. Die sich ausdehnen, mit anderen Clustern zu einem Netz verzahnen könnten. Vielleicht. Einer gezielten staatlichen Strategie geschuldet war die Entstehung des Autotest-Clusters Arjeplog nicht. Sondern Zufällen. Einigen aufmerksamen Bewohnern und seinen 8.727 Seen. Perfekten Eisbahnen im Winter. In den Siebzigerjahren kamen die ersten Autotester vorbei. Fragten, ob nicht jemand auf so einem See den Schnee für eine Testpiste wegräumen könnte. Und vielleicht auch eine beheizbare Baracke aufstellen? Ein örtliches Fuhrunternehmen bot schnell als „Icemakers“ seine Dienste an, ein Hotel seine leeren Betten. Bald kamen Porsche, Peugeot und Mercedes jeden Winter. Bosch hat gerade 20 Millionen Euro in eine neue Testanlage investiert.

Doch Arjeplog ist eine Ausnahme. Die Regel liegt zwei Autostunden weiter südlich. In Vilhelmina sind die Autos vor dem Supermarkt deutlich älter. Und die Statistik entsprechend hoffnungsloser. 11.000 Menschen vor 30 Jahren, jetzt sind es 7.400. Auf einer Fläche halb so groß wie das Bundesland Rheinland-Pfalz. Das einzige, was hier steigt, ist der Altersdurchschnitt der Bevölkerung. Die Jungen ziehen weg, der größte Arbeitgeber ist die Kommune selbst. Man beschäftigt sich vorwiegend mit der eigenen Versorgung. Und die ist teuer. Manche Kinder müssen jeden Tag über 120 Kilometer mit dem Schultaxi transportiert werden. Einer überalterten Bevölkerung in einer dünn besiedelten Gegend wenigstens den grundlegenden kommunalen Service zu bieten, kostet. Umgerechnet 5.500 Euro pro EinwohnerIn jährlich. In Stockholm sind es nur 4.200, der Landesschnitt liegt bei 4.400.

Zieht man die Arbeitsplätze ab, die man in Verwaltung, Handel und Kommunikation findet, bleiben ein paar hundert Fabrikjobs. Die Arbeitslosenrate liegt bei knapp 6 Prozent. Das ist leicht über dem Landesdurchschnitt. Vier von fünf Arbeitslosen sind Männer. Im Gesundheits- und Pflegesektor gibt es unbesetzte Stellen. In den nächsten Jahren wird dieser Bedarf wachsen. Doch solche Arbeit wollen arbeitslose Männer nicht haben. Klagt man bei der Arbeitsvermittlung. Sie warteten lieber auf Stellen, die es nicht gibt. Mit Saisonarbeit im Wald und Arbeitslosengeld im restlichen Jahr, mit Fischen und der Jagd geht das Haushaltsbudget für die meisten aber trotzdem auf.

Man hält sich so über Wasser. Weil aber im Rest des Landes die Wirtschaft kräftig wächst, werden die Gräben immer tiefer. Kein anderes Land hat laut EU-Statistik eine so schnell wachsende Kluft zwischen den am stärksten und am schwächsten wachsenden Regionen wie Schweden. Innerhalb weniger Jahre sank das Bruttoinlandsprodukt Nordschwedens von 5 Prozent über auf 8 Prozent unter den EU-Durchschnitt. Während das für die Region Stockholm von 30 auf 47 Prozent über EU-Durchschnittsniveau stieg. Früher arbeiteten die meisten in Vilhelmina in den Branchen, die Schwedens Reichtum begründeten: Wald, Wasserkraft, Bodenschätze. 100 Jahre lang war Nordschweden Boomland. Mit einer Bevölkerung, die sich erst versechsfachte und nun seit 50 Jahren wieder schrumpft. Vilhelmina & Co werden nicht mehr „gebraucht“, nachdem Boden- und Naturschätze ausgebeutet sind. Von Konzernen, für die es auf schnellen Profit und nicht auf Nachhaltigkeit ankam. Der EU-Beitritt hat den kleinen Landwirtschaften endgültig das Lebenslicht ausgeblasen. Der übrig gebliebene Wald ist der letzte Reichtum, den die Menschen hier noch haben. Könnte bei ökologisch wie ökonomisch nachhaltiger Bewirtschaftung eine den Tourismus lockende Natur- und Kulturlandschaft und Basis für Naturprodukte sein und bleiben. Doch über „ihren“ Wald bestimmen die Forstkonzerne, die nur ein Interesse haben: die Bäume schnellstmöglichst zu Rohstoff für die Papierindustrie zu verwandeln.

Drevdagen ist ein Dorf, wo die EinwohnerInnen Stopp sagten. Der „Waldaufruhr“ begann, mit dem die Forstkonzerne nun im Zweifel rechnen müssen, wenn sie wieder einmal riesige Waldflächen in bis zu 100 Kilometer lange Kahlschläge verwandeln wollen. Eine Mondlandschaft, auf der nie mehr Wald wächst. Nur noch Forst. Mit einer Geometrie, die an die Architektur der Nürnberger Reichsparteitage erinnert. Drevdagen lebt davon, dass TouristInnen hierhin finden. Im Sommer zum Spazierengehen, Pilze- und Beerensammeln, im Winter zu Hundeschlittenausflügen und zum Skifahren. Als ihnen der gleiche Staat, der gern beteuert, allen im Land gleiche Lebenschancen einräumen zu wollen, durch den staatlichen Forstkonzern Sveaskog ihre allerletzten Wälder abholzen wollte, legte sich Drevdagen quer. Man schaffte Öffentlichkeit, schaltete PolitikerInnen und Justiz bis zum EU-Gerichtshof ein und forderte das Selbstverwaltungsrecht über „seinen“ Wald. Knüpfte ein nationales und internationales Kontaktnetz. Sah sich in Schottland um, wo Dörfer staatlichen Wald in Selbstverwaltung übernahmen, und sammelte Beispiele aus Indien, Südamerika, Kanada und Russland.

Schwedens Politik, die so gerne glaubt, im Zweifel die besten Lösungen für alle globalen Probleme zu haben, wurde damit konfrontiert, dass in vermeintlich „rückständigen“ Ländern bessere Werkzeuge zur Verhinderung der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen für die Lokalbevölkerung existierten als im gelobten eigenen. Dass man aus Mgori in Tansania ein Rezept zum Überleben nordschwedischer Dörfer importieren könne. In Drevdagen wurde man erst ausgelacht, als unverbesserlicher Romantiker abgetan. Jetzt lacht niemand mehr. Sveaskog hat seine Abholzpläne erst einmal stoppen müssen und hat wie in vier anderen Orten Projekte mit der Lokalbevölkerung gestartet. Um Lösungen zu finden, wie die verschiedenen Werte und Interessen, die mit der Ressource Wald verbunden sind, unter einen Hut zu bringen seien. Nicht ganz Schweden wird überleben können. Aber dort, wo Menschen leben wollen und es dafür Voraussetzungen gibt, soll das wenigstens nicht um kurzfristigen Gewinns willen unwiederbringbar zunichte gemacht werden.