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Archiv-Artikel

Kein dinkeliger Migrationspop

BALKAN-R&B Miss Platnum weiß nicht erst seit eben, dass sie nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Ihr Album „The Sweetest Hangover“ integriert osteuropäisches Sentiment passgenau in urbane Partymusik

Das Fernsehen wollte sie zur Expertin für Essstörungen und Schlankheitswahn küren. Sie sagte nein

VON THOMAS WINKLER

Die Schrittsequenz dauert kaum zwanzig Sekunden. Aber diese zwanzig Sekunden werden geübt und wiederholt und und abermals getanzt. Und weil es sein muss, noch einmal und dann ein letztes und auch noch ein allerletztes Mal. Dann ist es endlich vorbei, morgen kann der Dreh für den neuen Videoclip beginnen. Ruth Maria Renner ist ziemlich rot im Gesicht.

Das allerdings ist kein Wunder, denn sie ist keine Tänzerin. Ruth Maria Renner ist Miss Platnum, die nicht der Typ für damenhafte Blässe ist. Miss Platnum ist eher kräftig und zwar auch eine Diva, aber eine handfeste. Auf ihrem neuen Album „The Sweetest Hangover“ versetzt die Soulsängerin diesen Soul mal wieder mit Einflüssen aus dem Rumänischen, denn da ist sie geboren. Ihr Vorbild aber ist Aretha Franklin und nicht etwa so ein Hungerhaken wie, sagen wir mal, Whitney Houston. Deren kaskadenhaftes Gejodel ist Miss Platnum auch eher fremd, sie sieht Miss Platnum als „Balkan-R&B-Queen, die aber nicht makellos schön ist, sondern auch mal saufen und brüllen kann“. Ihre Stimme ist tief, sie kann ganz schön röhren. Dazu braucht man halt etwas Masse.

Keine Essstörungsexpertin

„Ich weiß ja nicht erst seit eben, dass ich nicht dem gängigen Schönheitsideal entspreche“, sagt die 28-jährige Berlinerin. Dieser Umstand hätte allerdings beinahe dazu geführt, dass sie einen alternativen Karrierepfad eingeschlagen hätte. Als Miss Platnum vor zwei Jahren mit ihrem zweiten Album „Chefa“ einen ersten Achtungserfolg landete und zumindest in ihrer Heimat Berlin zur Lokalheldin aufstieg, wurde sie in Talkshows eingeladen, auch von bedeutenderen Fernsehsendern. Man wollte sie wegen des Songs „Give Me The Food“ zur Expertin für Essstörungen, Schlankheitswahn und ähnliche Themen küren. Ihre Plattenfirma hätte sie gern im TV gesehen, um mit der dadurch zu gewinnenden Popularität mehr Platten zu verkaufen. Aber Renner lehnte ab. Sie wollte nicht zur deutschen Beth Ditto werden.

Stattdessen begab sie sich auf die altmodische Ochsentour, um ihre Musik bekannt zu machen. Neben den Auftritten mit ihrer eigenen Band ging sie in den letzten Monaten auch noch als Backgroundsängerin für ihren guten Freund und gelegentlichen Kollaborateur Peter Fox auf Tournee. Im Rahmen der Konzerte mit Fox konnte sie jeden Abend ein, zwei ihrer eigenen Songs vortragen und sich so einem größerem Publikum bekannt machen.

Auf ihrem neuen Album, „The Sweetest Hangover“, wird nun perfektioniert, was auf „Chefa“ bereits ausformuliert war: Balkangehoppel und Zigeunergeigen werden mithilfe von DJ Illvibe und Monk, die als Produzententeam The Krauts bereits Peter Fox oder die Beatsteaks aufpeppten, verschränkt mit modernem R&B oder auch elektronisch schabenden Hiphop-Beats. Das ist dann mal verträumt balladesk und melancholisch wie in „Don’t Go To Strangers“, mal eher elektronisch und leicht synkopiert swingend wie in „She Moved In“. Meist aber werden die traditionellen Strukturen des Soul wie selbstverständlich versetzt mit den sehnsüchtigen Harmonien und den mitreißenden Rhythmen aus dem Balkan, die nahezu jede Menschenansammlung in koordinierte Bewegung zu versetzen verstehen.

Zusammengehalten wird dieser „Stilmix, den ich in dieser Konsequenz von niemandem sonst kenne“, wie die Künstlerin selber sagt, vor allem von Renners oktavenreichem Organ, das die englischen Texte mitunter mit einem demonstrativen Akzent singt, aber von der Ballade bis zum Soul-Shouter jedes Genre schwerelos beherrscht. Das ist auch nötig, denn trotz aller feinen Verästelungen in die Weltmusik, deren „dinkeliger Beigeschmack“ Renner abstößt, soll diese Musik doch vor allem eins sein: befreit vom sentimentalen Ballast. An dem mögen sich immer noch ein Wladimir Kaminer und sein Umfeld abarbeiten, mit dessen heimatseligen „Russendisko“-Veranstaltungen Miss Platnum ungerechtfertigterweise immer wieder in Zusammenhang gebracht wird. Dabei bedient sie, die als Achtjährige mit ihren Eltern nach Deutschland kam, kein klischeeverhangenes „Irgendwie auch ausm Osten“-Bild. Vielmehr integriert Renner das osteuropäische Sentiment passgenau in Partymusik für ein urbanes Publikum.

Sie covert „Babooshka“

Da versteht sie sich zwar als Verwandte von Santigold oder M.I.A., weigert sich aber, jedwede politische Dimension der Fusion erkennen zu wollen. Klar, sie schöpft aus zwei Kulturen, aber sie will ihre Songs nicht zu Globalisierungssoul oder Migrationspop degradiert sehen, sondern „einfach geile Musik machen“. Exemplarisch führt sie das vor mit der Single, für die gerade an diesem sonnigen Sommertag in der großen Halle eines Studio-Komplexes an der Havel geprobt wurde.

Ihre Version von „Babooshka“, des alten Gassenhauers von Kate Bush, bedient zwar einerseits einige wodkagetränkte Vorurteile, schafft es aber dank eines verträumt trödelnden Rhythmus und wundervoll verschämter Bläser, dieselben auch gleich wieder auszuhebeln.

Als sich der Regisseur des Clips noch einmal die einstudierten Tanzschritte zeigen lässt, gelingt Miss Platnum und den beiden eigens engagierten Tänzerinnen ein nahezu fehlerfreier Durchlauf. „Dit hättste nich jedacht“, strahlt Ruth Maria Renner, „dass ick det kann, wa?“ Der Triumph in ihrer Stimme ist unüberhörbar.

■ Miss Platnums „The Sweetest Hangover“ (Four Music/Sony) erscheint in wenigen Tagen