„Jedes Land hat seine Hitlers“

Ein neuer Völkermord ist im Kongo jederzeit möglich, warnt Vizepräsident Azarias Ruberwa. Von den verschobenen Wahlen erwartet er dennoch den Beginn einer Versöhnung. Doch zuvor müssten die Milizen im Ostkongo entwaffnet werden

INTERVIEW DOMINIC JOHNSON

taz: Herr Ruberwa, im Kongo herrscht große Angst vor dem 30. Juni – der Tag, an dem ursprünglich die Allparteienregierung der Kriegsparteien ihr Amt an eine gewählte Regierung abgeben sollte. Es hat keine Wahlen gegeben, Ihre Regierung bleibt im Amt und Oppositionelle drohen mit Aufstand. Was passiert am 30. Juni?

Azarias Ruberwa: Wahrscheinlich weniger als die Leute denken. Aber es muss eine politische Lösung gefunden werden. Wir verlangen, dass die Opposition außerhalb der Institutionen auf den Boden der Verfassung zurückkehrt und der Verlängerung der Übergangsperiode bis zu Wahlen um zweimal sechs Monate zustimmt. Im Gegenzug stehen wir dann in der Pflicht.

Wann gibt es Wahlen?

Die Regierung hat dieser Tage das Gesetz für das Verfassungsreferendum verabschiedet und an das Parlament weitergeleitet. Demnächst folgt das Wahlgesetz. Ich rechne mit dem Verfassungsreferendum im November 2005, die Wahlen im März und April 2006 mit der Stichwahl zum Präsidenten im Mai.

Als im August letzten Jahres über 160 kongolesische Banyamulenge-Flüchtlinge in Gatumba in Burundi von Angreifern aus dem Kongo massakriert wurden, sprachen Sie von Völkermord, zogen sich aus der Regierung zurück und verlangten eine Evaluierung. Was macht Sie jetzt zuversichtlich?

Hätte man schon im August auf uns gehört, dann hätten wir den Arbeitsrhythmus ändern können, und wir hätten Wahlen bis zum 30. Juni 2005 gehabt! Aber inzwischen gibt es Fortschritte. Die Wahlvorbereitung habe ich bereits erwähnt. Außerdem kommt die Integration der Armee, die sicher stellt, dass das Militär nicht länger parallelen Machtstrukturen gehört, voran. In Ituri im Nordosten des Landes haben wir den Beginn einer Demobilisierung: 10.000 Kämpfer haben wir gemeinsam mit der UN-Mission Monuc entwaffnet, es bleibt ein harter Kern von rund 2.600 Kämpfern, der gewaltsam entwaffnet werden muss. Es werden immer mehr Brigaden der neuen geeinten kongolesischen Armee aufgestellt. Bis Ende Juni werden wir sieben haben, bis zu den Wahlen wollen wir fünfzehn.

Im Ostkongo herrscht weiter Unsicherheit und Krieg.

Es gibt ein grundsätzliches Problem. Der Ostkongo ist der Gradmesser des Friedens im Kongo und in der ganzen Region. Bewaffnete Gruppen aus Burundi, Ruanda und Uganda haben Rückzugsgebiete im Ostkongo. Das größte Opfer dieser bewaffneten Gruppen ist aber die kongolesische Bevölkerung. Ihr Leiden ist eine Schande! Die Interahamwe (ruandische Hutu-Milizen im Kongo) haben erst vor kurzem im Distrikt Walungu wieder ein Massaker angerichtet. Walungu ist unser Darfur! Die Milizen vergewaltigen Frauen und sagen dann den Familien, sie können sie gegen 100 Dollar wieder abholen. So etwas ist unglaublich! Die Erklärung der FDLR („Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas“, politischer Arm der Milizen) von Ende März, die Waffen niederzulegen und nach Ruanda zurückzukehren, ist folgenlos geblieben. Die Lösung liegt jetzt in Gewalt. Kongos Armee, die UN-Truppen mit einem robusteren Mandat wie in Ituri und eine Truppe der Afrikanischen Union (AU) müssen sich zusammentun.

Wann wollen Sie die AU offiziell bitten, im Kongo einzugreifen?

Der Punkt ist schon da!

Halten Sie einen Völkermord in der Region heute noch für möglich?

Ja, das tue ich. Ein Grund ist eben, dass die Täter des Völkermords noch anwesend sind. Der zweite Grund ist die Kultur der Intoleranz und des Rassismus im Osten des Kongo und auch in Kinshasa. Manche Radio- und Fernsehsendungen bei uns erinnern an die Hitlerzeit. Jedes Land hat seine Hitlers, und bei uns entwickeln sie eine Hasspropaganda gegen Tutsi, gegen Banyamulenge, gegen die ruandischstämmige Gemeinschaft. Es reicht ein Funke, damit gesagt wird: Tötet diese Menschen.

Ist in einem solchen Klima ein friedlicher Wahlkampf möglich?

Unser Wahlkampf wird sehr bewegt sein. Ich würde gern einen Themenwahlkampf sehen: Politische Programme, Visionen, auch ob Kandidaten korrupt oder juristisch vorbelastet sind – und ich werde meinen Wahlkampf auf dieser Grundlage führen. Aber schwache Kandidaten werden darauf nur erwidern: Der ist Tutsi! Als Argument ist das ziemlich schwach. Aber so wird es laufen. Wir haben zwei große Herausforderungen im Kongo. Das eine ist Führungsqualität. Das andere ist Vertrauen – zwischen den Führern, und auch zwischen den Führern und der Bevölkerung. Ich hoffe, dass die Wahlen uns eine Führung geben, die nicht bloß technisch kompetent ist, sondern auch Verantwortung zeigt und sagt: Wir eröffnen ein neues Kapitel von Versöhnung, guter Regierungsführung, ein Ende der Straflosigkeit.