: Schröder vor dem jüngsten Gerücht
Wie wär’s damit: Die Neuwahlen finden gar nicht statt. Franz Müntefering wird Bundeskanzler und sorgt bis 2006 für einen Stimmungswechsel. Blödsinn? Die SPD war gestern den ganzen Tag damit beschäftigt, solche Meldungen zu dementieren
VON ULRIKE WINKELMANN
Einen „Coup“ habe der Kanzler gelandet, dieser „Spieler“. Zu einem „Befreiungsschlag“ habe er ausgeholt mit seiner Neuwahlankündigung. Und um noch eins draufzusetzen: Gerhard Schröder wird nicht verraten, wie er die Vertrauensfrage am 1. Juli im Bundestag gestalten will, damit es Neuwahlen geben kann! Noch nicht einmal den Präsidenten Horst Köhler hat er gefragt, wie der die ganze Sache sieht!
Alles Schröders: sein Streich, seine Verantwortung, sein Risiko. Alles gesetzt, auf dass voraussichtlich alles verloren geht – aber ein großartiger Abgang, das. So weit eine beliebte, vom Kanzleramt sicher goutierte Lesart der Ereignisse seit dem 22. Mai.
Doch seither haben welche die Kanzlermythenschreibung verdorben: die Verfassungsrechtler und das Volk. Erstere bescheinigen Schröder, dass es juristisch leider problematisch wird, wenn er sich sein Misstrauensvotum am 1. Juli bei Abgeordneten bestellt, die ihm die ganze Legislatur über 29-mal eine zwar knappe, aber saubere Mehrheit beschafften. Ein bisschen mehr Regierungskrise muss schon sein.
Da hilft weder die zunächst offiziell verkündete Behauptung, gegen den unionsdominierten Bundesrat könne Schröder nicht mehr anregieren. Schließlich würde sich durch Neuwahlen hieran nichts ändern. Auch nicht hilft die später lancierte Behauptung, die SPD-Linken hätten ihn zu sehr unter Druck gesetzt – die beteuern ihm nun seit Wochen ihr allergrößtes Vertrauen.
Und das Volk? Der Coup bleibt unbelohnt. Nicht bloß die Umfragewerte der SPD, sondern auch Schröders Zustimmungsprozente sinken. Angela Merkel zieht an ihm vorbei. Die Republik tut so, als begrüße sie schon eine Kanzlerin. Warum tritt Schröder eigentlich nicht gleich zurück?, fragen viele Juristen, manche Medien und die Union.
Warum eigentlich nicht? Das ist die Frage, die das Feld für eine neue Version möglicher Kanzlerereignisse bereitet hat. Gestern meldete die Nachrichtenagentur ddp, auf der SPD-Vorstandssitzung am Montag sei das „ernsthafte Szenario“ erstellt und „detailliert besprochen“ worden, der Kanzler werde zurücktreten. Dann könne SPD-Chef Franz Müntefering weiterregieren – bis zum ursprünglichen Wahltermin September 2006. Zu „geschockt“ sei Schröder von seinen schlechten Umfragewerten – er wolle den Weg frei machen, wenn sich daran binnen drei Wochen nichts ändere. Bis 2006 könne Müntefering dann versuchen, einen „Stimmungswechsel“ zu bewirken.
Sofort dementierte die SPD-Spitze. „Erstunken und erlogen“, erklärte Generalsekretär Benneter. „Das ist unseriös. Die nervöse Stimmung treibt hier ihre Blüten“, sagte Präsidiumsmitglied Andrea Nahles zur taz. Sie habe von der ersten bis zur letzten Minute im Vorstand gesessen – nichts dergleichen sei besprochen worden. Auf Nachfrage von Spiegel Online erklärte der ddp-Redakteur in München jedoch ungerührt: Sein Informant sei ein „vertrauenswürdiges Führungsmitglied der SPD“.
Doch Vertrauen ist derzeit ja in Berlin eine wacklige Währung.