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Archiv-Artikel

Links liegen gelassen

Ali Schmeißner war einmal einer der prominentesten Köpfe der schwäbischen Grünen. Doch Ende der 80er-Jahre riss ihn die Spielsucht in den Abgrund. Heute, wo seine einstigen Weggefährten in Baden-Württemberg auf dem Gipfel ihres Erfolges stehen, lebt der alte Fundi als Hartz-IV-Empfänger in Tübingen

von Dennis Yücel

Es ist die Hoffnung auf ein kleines Gespräch mit Menschen von früher, die Ali Schmeißner Woche für Woche in die Stadt treibt. Er trägt ein fleckiges Cordsakko, einige seiner lichten Strähnen hängen bis runter in den Vollbart. Unter ängstlich zusammengezogenen Brauen liegen seine fast blinden Augen.

Schmeißner hofft, dass ihn einer erkennt in der Tübinger Altstadt. Aber die Leute grinsen und tuscheln bloß, wenn er an ihnen vorbeigeistert, wie ein Kind beim Topfschlagen, weil er sich weigert, einen Blindenstock zu benutzen. Und auch im italienischen Eiscafé bleibt er meist alleine, obwohl er sich jeden Samstag an die breite Fensterfront zur Fußgängerzone setzt, damit man ihn sehen kann.

Früher war Albrecht „Ali“ Schmeißner eine große Nummer unter den schwäbischen Linken. In den politisch aufgeladenen Siebzigern konnte er keine zehn Meter durch Tübingen gehen, ohne dass ihn jemand ansprach. Er war befreundet mit Rudi Dutschke, trat gemeinsam mit Beuys im Audimax der Uni auf, organisierte Studentendemos mit 70.000 Teilnehmern. „Ali holte weit aus“, schrieb der Spiegel 1978, als Willy Brandt ein Treffen mit Studentenorganisationen nach einer Rede Schmeißners erbost verlassen wollte, weil er sich von Jungakademikern „keine in die Fresse hauen“ lasse. Im Jahr 1980 gründete Schmeißner die Grünen mit und saß drei Jahre lang im Beisitz des Bundesvorstands. Nebenbei arbeitete er als Geschäftsführer des Tübinger Studentenwerks. Doch während seine Weggefährten Ende der 80er-Jahre die entscheidenden Weichen ihrer Karriere stellten, geriet er auf Abwege.

In den 1970ern war Schmeißner die treibende Kraft

Heute, wo die Partei auf dem Gipfel ihres Erfolges steht und mit Winfried Kretschmann den gefeierten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs stellt, will ihn kaum einer mehr kennen. Schmeißner, 65 Jahre alt, lebt als Hartz-IV-Empfänger am Rand der Tübinger Altstadt, allein und fast blind von seiner Diabetes.

Als sich die Grünen Ende der 70er-Jahre langsam aus verschiedensten Strömungen von linksorthodoxen Antiparlamentariern bis zur ökologischen Rechten formieren, ist Schmeißner eine treibende Kraft des linken Flügels. Mit seinen Kontakten in der Studentenszene gelingt es ihm, Tübingen zu einer der wenigen Fundi-Hochburgen in Baden-Württemberg zu machen, wo sich die Grünen von Beginn an überwiegend aus bürgerlichen Kreisen rekrutieren und bis heute die pragmatischsten Realos zu finden sind. Drei Jahre lang ist er dann auch in der Bundespolitik einer der prominentesten wie streitbarsten Köpfe aus dem linken Flügel der Partei. Doch dann, 1987, kommt die Spielsucht.

Wenn Schmeißner über sein schwerstes Jahr spricht, dann bricht seine Stimme auch nach 25 Jahren noch. „Ich hab damals gschafft wie ein Blöder“, sagt er leise. „Da hat es mich irgendwie erwischt.“

Er pendelt damals zwischen Tübingen und Bonn, zwischen seiner Arbeit für das Studentenwerk und den Bundesvorstand der Grünen. Die Doppelbelastung setzt ihm zu, auch weil er sich von den Realos immer mehr in die Ecke gedrängt sieht. Schon damals ist er mit seinen radikalen Ideen ein Exot bei den Grünen. Erst wirft man ihm vor, die Ökologie sei für ihn nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur Diktatur des Proletariats. Dann wird er von Fritz Kuhn „politisch kaltgestellt“, wie eine Lokalzeitung schreibt.

„Der Schmeißner hat seine Überzeugungen immer bis aufs Messer verteidigt“, sagt Rezzo Schlauch. Der stiernackige Realo Schlauch saß damals für die Grünen im baden-württembergischen Landtag, war später Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und wechselte nach seiner politischen Karriere in den Beirat des Stromversorgers EnBW. „Schmeißner war aber nie ein Apparatschik“, erzählt Schlauch. „Er war kein kühl berechnender Taktiker, sondern ein emotionaler Mensch, mit Höhen und Tiefen. Ich habe ihn für seine Art immer respektiert. Aber vielleicht hat sich da mit seiner Emotionalität auch schon abgezeichnet, zu was das später geführt hat.“

Schmeißner hat damals nicht nur in der Partei Probleme. Er streitet viel mit seiner damaligen Ehefrau. Dreimal verliert er seinen Führerschein, weil er betrunken am Steuer erwischt wird. Als er deswegen für vier Monate ins Gefängnis muss, ist er endgültig am Boden. Kurz nach seiner Freilassung erzählt ihm ein Taxifahrer, dass ein neues Casino im benachbarten Reutlingen aufgemacht habe. „Ich weiß nicht warum, aber da hab ich gesagt: Fahr mich hin.“ Im Foyer leiht er sich eine Krawatte, stellt sich dann an den Roulettetisch und spielt sich in einen Rausch. Am Ende des Abends hat er fast 9.000 Mark verloren.

Am nächsten Abend geht er wieder an den Spieltisch. „Ich habe mir gedacht: Das gibt's doch nicht, das holst du dir wieder“, sagt er. „Ich war sofort besessen von dem Gedanken, das Geld zurückzugewinnen.“ Schon nach einigen Monaten hat er 100.000 Mark Schulden bei der Bank. Da greift er in die Kasse des Studentenwerks.

Angst, man könnte ihn einen Heuchler nennen

„Das nächste Jahr habe ich ein Doppelleben geführt“, sagt Schmeißner. Tagsüber arbeitet er im Studentenwerk, ist ein lockerer Chef, der großzügig Gelder freimacht für die Einrichtung studentischer Waschsalons, einer Fahrschule und mehrerer Kneipen. Nachts zieht er im schwarzen Anzug durch die Casinos, tausende unterschlagene Mark in den Taschen. Schmeißner ist gleichzeitig Vorstand und Geschäftsführer des Studentenwerks, da fällt es nicht auf, dass er sich aus der Vereinskasse bedient. Nach einem Jahr glaubt er noch immer, alles wieder zurückzugewinnen. Die Schulden wachsen – er erhöht die Einsätze. Irgendwann gewinnt er 40.000 Mark auf einen Schlag – aber da fehlt bereits über eine halbe Million.

„Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Es war eine Krankheit“, sagt Schmeißner. „Aber ich konnte niemanden um Hilfe fragen.“ Einige Jahre zuvor wollte er die Abgeordneten seiner Partei verpflichten, nur das durchschnittliche Gehalt eines Arbeiters anzunehmen – da kann er jetzt nicht einfach zugeben, dass er eine halbe Million gestohlen und beim Roulette verzockt hat. Ihn treibt die Angst, man könnte ihn einen Heuchler nennen, der Sozialismus predigt, aber in Champagnerlaune mit Jetons um sich wirft. Schmeißner macht die Augen zu und hofft, da irgendwie wieder rauszukommen.

Bei einer Bilanzierung im Jahr 1988 fällt der Betrug schließlich auf. 630.000 Mark hat er dem Studentenwerk gestohlen. Er wird fristlos entlassen, legt sein Mandat im Tübinger Kreistag nieder. 350.000 Mark des fehlenden Geldes kann er durch eine Erbvorauszahlung der Mutter begleichen, das Studentenwerk verzichtet auf 170.000 Mark, den Rest soll er abstottern. Zudem wird er zu drei Jahren Haft verurteilt.

Zehn Jahre kein Lebenszeichen

Am 2. Juli 1990, dem Tag, als er in Stammheim seine Haft antreten muss, verabschiedet er sich von seiner Mutter und fährt mit dem Zug Richtung Osteuropa. Nach einigen Stationen landet er in Prag. Dort schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch, vermittelt Zimmer an deutsche Touristen, lebt von der Hand in den Mund. Oft schläft er auf der Straße. Zehn Jahre lebt er so, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. „Niemand hat gewusst, wo ich bin und was ich mache“, sagt er. „Weder meine Mutter, meine Geschwister, noch meine Exfrau oder meine Tochter.“

Erst im Jahr 2000, am Tag, als seine Strafe verjährt, kommt er nach Tübingen zurück. Er zieht zu seiner schwer kranken, 90-jährigen Mutter und pflegt sie, bis sie stirbt. Seitdem lebt Schmeißner allein im Elternhaus, ein wenig abseits der Tübinger Altstadt, an einem kleinen Hang über dem Neckar.

Die Häuser dort oben sind nur über moosige Treppen zu erreichen, die im kühlen Schatten dickastiger Kastanienbäume liegen. Auf den Briefkästen weisen Aufkleber die Besitzer als Gegner von Stuttgart 21 aus. Von den Balkonen wehen Anti-Atomkraft-Wimpel und „Pace“-Flaggen in den wolkenlosen Himmel, an dessen Horizont sich die sanften Ausläufer der Schwäbischen Alb abzeichnen. Schmeißner lebt einsam mitten in der perfekten Wutbürger-Idylle.

Wankend schiebt er sich durch den Flur seines Hauses, als wäre er im Inneren eines schaukelnden Schiffes. „Die Beine sind noch schwer, von der Dialyse“, sagt er. Er tastet sich vor ins Wohnzimmer, dessen Einrichtung aus Nachkriegsmuff und Türmen ungelesener Zeitungen besteht, bis er schließlich einen runden Tisch mit einer verblichenen Tischdecke erreicht. „Hier sitze ich dann immer und höre Radio.“ Einmal hat er es nach seiner Rückkehr aus Tschechien noch versucht mit der Politik. Er sprach auf einer Demonstration gegen die Einführung von Hartz IV und schrieb einen wütenden Brief an Gerhard Schröder. Als keine Antwort kam, ließ er es sein. „Ich habe gemerkt, dass der Streit von früher vorbei ist“, sagt er. „Es gibt keine Fundis und Realos mehr, sondern nur noch Neoliberale.“

Heute ist es schwer, noch Leute bei den Grünen zu finden, die sich an Ali Schmeißner erinnern wollen. Kaum jemand ist so offen wie Rezzo Schlauch. „Der Ministerpräsident weiß, wer Schmeißner ist, aber steht zu einem Interview leider nicht zur Verfügung“, heißt es im Büro von Winfried Kretschmann.

Auch sein damaliger politischer Hauptgegner Fritz Kuhn möchte sich nicht äußern. „Fritz Kuhn hat seinen Kopf gerade wo völlig anders: Er bereitet sich auf die Bürgermeisterwahl in Stuttgart vor“, sagt seine Pressesprecherin.

Und Lukas Beckmann, der zu Schmeißners Zeiten im Bundesvorstand saß und jetzt Vorstand der Ökobank GLS ist, sagt bloß: „Dieses Fass mache ich nicht mehr auf.“

Schmeißner spricht noch immer von Postfaschismus und Großkapital. Von Marx, Lenin, Mao. Über dem Latte macchiato sagt Schmeißner, die neue Vielfalt fremdländischer Bezeichnungen für Kaffee sei „eine typische Methode des Spätkapitalismus, die Dinge zu verschleiern“.

Tübingens Grüner Bürgermeister Boris Palmer habe ihn einmal auf einer Veranstaltung angesprochen und ihm die Hand geschüttelt. „Ich habe mich gefühlt wie so eine Art Maskottchen“, sagt Schmeißner. „Als der Linke von damals.“

Sein letzter Trumpf ist in solchen Fällen der Trotz: „Ich bin Marxist. Ich hätte nie Karriere machen wollen, das ist doch langweilig.“

Dreimal die Woche muss Ali Schmeißner wegen seiner Diabetes zur Dialyse. Dort legt er sich auf die Bank, setzt seine Kopfhörer auf und lauscht den Parlamentsdebatten auf Phoenix. „Da höre ich sie dann alle“, sagt er, „die Freunde und Feinde von damals.“ Nur erwidern kann er ihnen nichts mehr.