„Fluchtweg ist kein beliebtes Wort“

KNÄSTE Josef Hohensinn plant Gebäude, in denen Menschen eingesperrt werden. Er bemüht sich, dass es die Menschen darin gut haben. Ein Gespräch über Mauern, Überwachungskameras und die Lust an der Offenheit

■ Die Person: Josef Hohensinn wurde 1956 als ältester Sohn von Bauern in Oberösterreich geboren. Dass nicht er, sondern sein jüngerer Bruder den Hof übernahm, bezeichnet er als sein Glück: So konnte er Architekt werden. Studium in Linz und Graz, seit 1998 besteht sein Büro „hohensinn architektur“ in Graz.

■ Sein Knast: Ende 2012 soll die von Hohensinn geplante Justizvollzugsanstalt Heidering in Großbeeren, Brandenburg, eröffnet werden. Das Gefängnis wird vom Land Berlin betrieben, es befindet sich auf einem Gelände, das zu den Stadtgütern Berlins gehörte. 648 Haftplätze, 300 Bedienstete, etwa 118 Millionen Euro Baukosten, statt von einer Mauer von einer Zaunanlage umgeben.

INTERVIEW ALEM GRABOVAC
FOTOS PAUL OTT

Enge Gassen, Innenhöfe, der Schlossberg und kunstvolle Renaissance- und Barockbauten prägen das Bild von Graz. Das Haus des Architekten Josef Hohensinn befindet sich in einem Vorort. Man fährt durch eine sanft ansteigende frühlingsgrüne Berg- und Tallandschaft, in der Ferne glitzert Schnee auf einigen Gipfeln. Hohensinns Haus liegt auf einer Anhöhe mit Talblick. Ein modernes, lichtdurchflutetes Haus. Viel Holz, viel Glas, nackter Beton, deckenhohe Fenster, elegante Inneneinrichtung. Hohensinn macht uns zwei Tassen Kaffee. Die Espressomaschine rattert.

sonntaz: Herr Hohensinn, schön haben Sie es hier, dieser Blick in die Weite, das Haus. Haben Sie sich das selbst gebaut?

Josef Hohensinn: Ja.

So lebt also einer, der mit seiner Architektur Menschen einsperrt.

Das ist ja der Irrtum. Ich sperre nicht mit meiner Architektur Leute ein, sondern schaffe Bedingungen, wie das Eingesperrtsein sein kann.

Was bedeutet das?

In einer demokratischen Gesellschaft gibt es nun einmal Gesetze, und wer diese Gesetze bricht, muss damit rechnen, bestraft zu werden. Für mich ist das spannend, positiv Einfluss zu nehmen, indem ich den Freiheitsentzug human gestalte, also einen positiven Lebensraum erbaue, eine menschenwürdige Behausung erschaffe.

Wie kamen Sie zur Architektur?

Als Kind wollte ich Baumeister werden und habe auf jeden freien Zettel, den ich gefunden habe, Häuser gezeichnet.

Wo sind Sie aufgewachsen?

In einem kleinen Dorf in Oberösterreich. Auf einem Bauernhof, in einem Blockhaus, das sicher 250 Jahre alt war. Das Tolle auf einem Bauernhof ist ja, dass es immer etwas zu bauen gibt. Holzzäune und Baumhäuser oder in der Scheune. Und so hat sich das dann einfach – über Schule und Studium – weiterentwickelt.

Mussten Sie als Kind auf dem Hof mitarbeiten?

Eigentlich weniger. Ich hatte kein Interesse an dieser Arbeit. Ich habe einen jüngeren Bruder, und es war eigentlich immer klar, dass er irgendwann den Hof übernehmen wird. Es war mein Glück, dass meine Eltern so liberal waren und nicht darauf bestanden haben, dass ich als Ältester Bauer werde.

Sie haben 2004 Ihr erstes Gefängnis im österreichischen Leoben erbaut. Ende 2012 soll Ihr Berliner Gefängnis fertiggestellt werden. Wie wird man Gefängnisarchitekt?

Durch Zufall. Wir hatten den Wettbewerb für ein neues Justizgebäude in Leoben gewonnen. Und beim Gericht hatten wir die Idee, wegzukommen von diesen hochherrschaftlichen Gerichtsgebäuden aus Stein und Marmor, die die Bevölkerung einschüchtern. Wir wollten eine freundliche, offene Serviceeinrichtung für die Bürger bauen. Dieses Konzept ist sehr gut aufgenommen worden und das Justizministerium hat dann auch ein neues Gefängnis im Sinne dieser Idee verwirklicht.

Wie entwirft man ein Gefängnis?

Na ja, man macht erst einmal eine Skizze. Eigentlich entwirft man ein Gefängnis genauso wie jedes andere Gebäude.

Aber in anderen Gebäuden gibt es doch keine Haftzellen und hohen Mauern. Und was ist mit dem Brandschutz? Wie gewährleistet man Fluchtwege, die es ja eigentlich in einem Gefängnis nicht geben darf? Öffnen sich die Fenster und Türen bei Rauch automatisch?

In einem Gefängnis ist der Fluchtweg kein beliebtes Wort. Dort heißen sie Rettungswege. Die Bediensteten haben eine Art Feuerwehrausbildung, um Soforthilfe leisten zu können. Und es gibt natürlich auch Feuerwehrauffahrten. Aber das Thema ist kompliziert, weil die Fenster vergittert sind und es keine Rettungsmöglichkeiten in dieser Richtung gibt. In jeder Zelle befindet sich deswegen eine Gegensprechanlage, durch die der Häftling das Personal alarmieren kann.

In Leoben wollten Sie ein offenes Gefängnis bauen – gab es dort gescheiterte oder geglückte Fluchtversuche?

Nein, die gab es noch nicht. Die Sicherheitsstandards sind ja trotz allem sehr hoch. Die Menschen, die in Haft sind, entwickeln in dieser Hinsicht aber ein irrsinniges Potenzial an Kreativität. Denn das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist der Freiheitsentzug. Und diese Kreativität müsste man für andere, für handwerkliche oder soziale Dinge nutzen.

Im Leobener Gefängnis gibt es bunte Sofas, großzügige Sportanlagen, Kuschelräume für Pärchen, lichtdurchflutete Einzelzellen, Gemeinschaftsräume und sogar Loggien, Balkone. Die Boulevardpresse hat deswegen Ihre Justizvollzugsanstalt als „Designer-Knast“ und „Fünf-Sterne-Gefängnis“ bezeichnet. Ist Ihr Gefängnis zu luxuriös?

Das ist doch alles Unsinn! Unser Anliegen ist, die Insassen mit Anstand und Würde zu behandeln. Das ist auch nicht teurer als im herkömmlichen Knast. Der Freiheitsentzug ist die größte Strafe. Wissen Sie, ich habe mich einmal für zehn Minuten in eine Zelle einsperren lassen. Diese Beklemmung, nahe an der Panik, war enorm.

Müssen die Fenster vergittert sein?

Früher dachte ich, dass man auf Gitter verzichten kann. Heute denke ich, dass Gitter nicht so schlecht sind, weil man die Fenster davor dann ganz öffnen und nicht nur kippen kann. Das gibt den Häftlingen wenigstens ein Gefühl der Offenheit.

Ende 2012 wird Ihr Gefängnis fertig, das Sie für das Land Berlin im brandenburgischen Großbeeren bauen. Es soll 118 Millionen Euro kosten, pro Quadratmeter wären das grob überschlagen 4.000 Euro – fast doppelt so viel wie der Berliner Durchschnitt. Verständlich, dass das Steuerzahler ärgert?

Aber da sind ja auch die ganzen Sportbereiche, Arbeitsstellen und die Sicherheitstechnik mit einberechnet. Das gehört dazu und ist wichtig. Ohne wären es nur noch 2.458 Euro pro Quadratmeter. Das ist also nicht zu teuer. Es ist doch nicht möglich, jemanden den ganzen Tag in seiner Zelle einzusperren. Damit würde ich ihn ja bewusst schädigen.

Weshalb braucht jemand, der ein Kind vergewaltigt hat, einen Sportplatz und einen Gefängnisbalkon?

Jeder Mensch muss als Mensch behandelt werden. Das ist mein oberstes Prinzip. Das Wichtigste in einem Gefängnis ist doch, Aggressionen abzubauen. Sie brauchen sich doch nur einen Kettenhund anzusehen – der wird bewusst an der Kette gehalten, um aggressiv und bösartig zu sein. Wenn ich einen Menschen an die Kette nehme, wird er dadurch sicherlich nicht resozialisiert. Wir müssen versuchen, die physischen und psychischen Schäden, die durch den Gefängnisaufenthalt entstehen, so gering wie möglich zu halten.

Architektur als Resozialisierungsmaßnahme?

Sicher! Ich möchte diesen Leuten mit meinen Mitteln ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die Kultur einer Gesellschaft erkennt man dadurch, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Diese Menschen sind ja in unserer Obhut. Wir müssen doch, egal was sie getan haben, anständig mit ihnen umgehen. In Leoben ist es uns gelungen, einen freundlichen Lebensraum zu gestalten. Dadurch gehen die Wärter und die Häftlinge viel entspannter miteinander um. Menschen dürfen nicht wie Tiere gehalten werden. Sonst kommt es zu gewalttätigen Eruptionen.

Der Philosoph Ernst Bloch hat einmal gesagt: „Der Stuhl bestimmt unsere Sitzhaltung.“

Genauso ist es! Der Lebensraum bestimmt doch auch, wie ich mich als Mensch verhalte. Vor dem Wettbewerb in Leoben hatte ich als Recherche Kontakt zu einem ehemaligen Gefangenen. Er hat mir erzählt, dass er Monate gebraucht habe, in Freiheit wieder normal durch eine Tür zu gehen. In den Justizvollzugsanstalten macht normalerweise der Wärter die Tür auf und schließt sie wieder ab. Er ging also immer zur Tür und hat darauf gewartet, dass ihm jemand öffnet.

Vor ein paar Jahren war ein Journalist der New York Times bei Ihnen. Für seine Reportage hat er US-Gefängnisdirektoren Fotos von Leoben vorgelegt. Einer meinte, dass das eine Form europäischer Dekadenz sei.

Aber die machen doch da etwas grundlegend falsch. Solche Aussagen zeigen ein grundsätzliches Unverständnis. Die Philosophie des „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist eine überkommene Vorstellung. Die haben ja Unmengen an Häftlingen. Außerdem sind die amerikanischen Gefängnisse wegen der viel höheren Personalkosten und Sicherheitsvorkehrungen um einiges teurer als die europäischen.

Sie haben einmal gesagt, dass seit gut 150 Jahren im Gefängnisbau keine Weiterentwicklung stattgefunden habe.

Damit habe ich das entmündigende panoptische System des Philosophen Jeremy Bentham gemeint. Sein Modellgefängnis …

mit einem Turm in der Mitte, von dem aus jeder Insasse jederzeit beobachtet werden kann. Der Gefangene dagegen kann nie den Wärter sehen – die totale Überwachung. Wo ist der Fortschritt mit den Kameras?

Die sind genauso schlimm. Der Fortschritt liegt im persönlichen Kontakt. Der Beamte wird zu einem Betreuer und Ansprechpartner. Es gibt Wohngruppen von 15 Personen. Die Insassen können, in geregelten Zeiten, ihre Zellen selbst aufmachen und schließen und somit auch den Beamten sehen. Also eine Demokratisierung, ein wechselseitiges Beobachten und Wahrnehmen.

Gibt es bei Ihnen Kameras in den Zellen?

Nein. Wir gewährleisten den Respekt vor der Privatsphäre und bauen dadurch Aggressionen ab, die durch ständige Überwachung und Führung entstehen. Bei uns kann sich der Häftling relativ frei bewegen, kann alleine zu seiner Arbeitsstelle gehen oder sich im Gefängniskiosk eine Zeitung kaufen. Wir wollen keine totale Entmündigung der Häftlinge. Wir versuchen den Gefangenen ein normales Leben zu ermöglichen.

Ein normales Leben?

In Leoben haben wir es zum Beispiel geschafft, billige Möbel kaufen zu dürfen, die aus Standardkaufhäusern wie Ikea stammen. Die Idee dahinter ist, dem Benutzer unterbewusst eine Vertrautheit zu geben. Zu Hause hat er das gleiche Billy-Regal oder das gleiche Sofa. Diese Möbel sollen ein Alltagsgefühl vermitteln, den Insassen sozusagen unbewusst sozialisieren.

Waren diese Maßnahmen erfolgreich?

Ich bin sehr oft dort gewesen. Die Bediensteten, mit denen wir Kontakt haben, berichten von einem äußerst positiven Miteinander. Die Krankenstände der Bediensteten als auch der Häftlinge haben sich im Vergleich mit anderen Gefängnissen halbiert. Es gibt absolut keinen Vandalismus und keine Beschädigungen. Das ganze Gebäude ist immer noch in einem sehr guten Zustand. Die Insassen gehen äußerst behutsam mit dem Gebäude um. Auch die Gewalt untereinander ist im Vergleich zu anderen Gefängnissen sehr gering.

Wird es im Berliner Gefängnis auch große Fenster, Grünanlagen und Loggien vor den Gemeinschaftsräumen geben?

Ja, sicher. Das ist ja unser Konzept. Es wird drei X-förmige Teilanstalten mit Wohngruppen geben, die an eine Magistrale anschließen.

Aber ist diese X-Form nicht das panoptische System – in der Mitte die Wärter, drumherum die Häftlinge?

Das stimmt. Und als Architekt arbeitet man nur mit äußerstem Widerstand damit, weil sie als Symbol für Überwachung gilt. Wir benutzen sie jedoch anders. Dadurch, dass die Häftlinge nicht in Zellen eingesperrt sind, sondern sich in den Wohngruppen frei bewegen können, durchbrechen wir das panoptische System.

Jede Zelle wird in Berlin zehn Quadratmeter umfassen. Arg klein. Ist das nicht die alte Kultur des Bestrafens und Einkerkerns?

Sie sind ja lustig – erst verkörpern Sie mit ihren Fragen genau die Stammtischbevölkerung, die sagt: alles viel zu teuer, alles viel zu luxuriös, und jetzt fragen Sie mich, weshalb die Zellen nur zehn Quadratmeter groß sind. Natürlich wäre es besser, die Zellen größer zu bauen. Aber das würde eben dann auch deutlich teurer werden.

Ist das so?

Na ja, es wäre eine Spur teurer. Aber Sie haben schon recht, vielleicht geht es hier auch um eine Tradition, die da sagt, dass einem Häftling nicht mehr Lebensraum zusteht. Wenn ich dürfte, würde ich die Zellen sicherlich größer bauen.

Anstatt mit einer Mauer wird das Gefängnis durch eine Doppelzaunanlage mit Videoüberwachung und Bewegungsmeldern gesichert sein. Soll das mauerlose Gefängnis die Verbindung mit der Gesellschaft symbolisieren?

Teilweise. Es hat intensive Diskussionen gegeben. Für uns war es wichtig, den Zaun zu bauen, um die Landschaft in den Freibereich der Anstalt einfließen zu lassen. Ich glaube, dass es eine große Qualität für die Häftlinge ist – zwar gefiltert durch den Zaun –, die Natur zu spüren und einen weiten Horizont zu haben.

Ist das nicht nur eine Scheinfreiheit? Michel Foucault hat anhand der Gefängnisarchitektur unsere Gesellschaft als riesige Überwachungs-und Unterdrückungsmaschinerie beschrieben. Mit der elektronischen Überwachung ist doch auch Benthams Traum der totalen Überwachung Wirklichkeit geworden.

Das trifft meiner Meinung nach mehr auf die Gesellschaft als auf das Gefängnis zu. Das macht mir auch Sorgen. Die ganzen Kameras in unseren Städten sorgen nicht für mehr Sicherheit, sondern ermöglichen mehr Überwachung. Mit Handys, Internet und Facebook vergläsern sich die Menschen allerdings auch intensivst selber.

Sie sagen also, dass Menschen in Freiheit stärker als die Insassen von Gefängnissen überwacht werden?

Ja, das sage ich.

Die elektronische hat die physische Überwachung ersetzt. Brauchen wir dann überhaupt noch Gefängnisse oder reicht die elektronische Fußfessel?

Es wäre gut, wenn sich da neue Systeme entwickeln würden. Aber das hat etwas mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu tun.

Waren Sie im Traum schon einmal in einem Gefängnis eingesperrt?

Nein.

Nehmen wir an, dass Geld keine Rolle spielt. Wie würde Ihr Traumgefängnis aussehen – würde es dort zum Beispiel ein Schwimmbad geben?

Ja, weshalb auch nicht? Ein Schwimmbad wäre gut. Aber ich würde in erster Linie versuchen, noch mehr Raum für die Häftlinge zu schaffen. Wichtig wäre auch die Optimierung des Miteinanders von Beamten und Insassen. Noch stärker weg vom Gedanken des Einsperrens, hin zu einer Philosophie des Betreuens.

Alem Grabovac, Jahrgang 1974, sonntaz-Autor, war schon öfter im Traum in einem Gefängnis eingesperrt

Paul Ott, Jahrgang 1965, freier Fotograf in Graz. So luxuriös ein Gefängnis scheinen mag – er wollte seine Freiheit nicht dafür geben