„Totengräber der SPD“

In der Fraktion wächst der Frust über Kanzler Schröders Kurs. Aber auch Müntefering wird verantwortlich gemacht

BERLIN taz ■ Lakonie ist der falsche Ausdruck, aber Verzweiflung ist es auch nicht. Es liegt eine geübte Frustration darin, wie ein linker SPD-Bundestagsabgeordneter erklärt: „Ich habe schon 1999 gesagt, dass Schröder der Totengräber der SPD wird.“

Damals, weniger als ein Jahr nach Regierungsantritt, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit dem britischen Premierminister Tony Blair das „Schröder-Blair-Papier“ verfasst. Dessen Inhalte lauteten in etwa: Steuern runter, Sozialsysteme schmaler, Eigenverantwortung her – also alles, was auch die „Agenda 2010“ bestimmt, mit der Schröder im März 2003 herauskam.

Genau eine Chance gab es, dass die Wähler diese Politik nach den verlorenen Landtagswahlen doch noch honorieren könnten: dass Ende 2005 oder Anfang 2006 die Arbeitslosenzahlen wieder sänken, sich ein wirtschaftlicher Aufschwung nicht nur für Aktionäre, sondern auch für alle anderen abzuzeichnen begänne. Diese Hoffnung einigte den Agenda-2010- wie den linken Flügel der SPD.

Mit den Neuwahlplänen des Kanzlers ist jedoch nicht nur die Aussicht, das Wahlvolk für die Agenda 2010 einzunehmen dahin, sondern auch die Chance, die Flügel zu versöhnen. Stattdessen gibt es nun groteske Kämpfe um sichere Listenplätze für die nur noch 180 oder 190 statt der bisherigen 250 Bundestagsmandate.

Aus dem politischen Chaos, das seit der Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen am Abend des 22. Mai entstanden ist, haben freilich die Agenda-Kritiker bislang mehr publizistischen Profit schlagen können. Als vermeintliche Regierungskrisen-Verursacher ohnehin verdächtig, haben sie ihr Forderungen an eine neue Politik breit ausgewalzt: Bürgerversicherung her, Mindestlohn, keine Steuergeschenke mehr. Die Parteilinke mit sicherer Aussicht auf einen Bundestagssitz, Andrea Nahles, erklärte die Agenda 2010 schon keck zur „Vergangenheit“.

Sogar den Sofortabschied von Schröders bereits angekündigten Unternehmensteuersenkungen forderte die SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, kurz AfA, unter Ottmar Schreiner. Nicht aber einen neuen Spitzenkandidaten. Mit einer Reihe unflätiger Ausdrücke bedachte Schreiner gestern gegenüber der taz die Nachricht, der AFA-Vorstand aus Nordrhein-Westfalen, Heinz-Werner Schuster, wolle einen neuen Kanzlerkandidaten aufstellen. Jedenfalls sei Schuster „keiner, den man kennen muss“, sagte Schreiner.

„Dreckschweine“ nannte auch Michael Müller, Chef der Parlamentarischen Linken (PL), alle, die das Gerücht gestreut haben, der Kanzler wolle statt Neuwahlen doch lieber zurücktreten und Franz Müntefering bis 2006 weiterregieren lassen. Derartig heftige Dementis schließen zwar nicht aus, dass rings um den Kanzler derzeit schlichtweg jede Option erwogen wird, die nächsten Wahlen doch noch zu gewinnen. Es ist allerdings auch möglich, dass die Ventilation solcher B-, C- und D-Pläne mit Müntefering in entscheidender Funktion auch dem SPD-Chef schaden sollen. Dessen Doppelrolle als loyaler Dem-Kanzler-den-Rücken-frei-Halter und Heuschrecken-Kritiker wird ihm von manchen langsam übel genommen.

Juso-Chef Björn Böhning sagte gestern, die Rücktrittsdebatte „spiegelt die Orientierungslosigkeit der Partei insgesamt wider“. Er griff Schröder wie Müntefering an: „Es fehlt eine politische Strategie für die kommenden Tage und Wochen.“ Ach, sagte gestern Rainer Wend, kanzlertreuer Chef des Wirtschaftsausschusses, „in so einer beschissenen Lage kriegt auch der Parteivorsitzende mal was ab. Das ist zwar irrational, aber normal.“

Zur normalen Irrationalität dieser Tage trug gestern Fraktionsvize Ludwig Stiegler bei. Er attackierte den Bundespräsidenten Horst Köhler. Der habe gestreut, Schröder habe zugegeben, er sei wegen der Linken zu Neuwahlen gezwungen. „Nach der Frage ‚Wem dient es?‘ ist der Verdacht groß, dass diese stramme CDU/FDP-Truppe rund um den Bundespräsidenten hier versucht, Politik zu machen, und deshalb Unsicherheit zu verbreiten versucht“, verstärkte Stiegler eine ähnliche Behauptung des PL-Chefs Müller. Ebendiese brandmarkte Regierungssprecher Béla Anda zwar als „völlig unerträglich“. Doch Erträglichkeit schert bei der SPD ja niemand mehr.

ULRIKE WINKELMANN