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Archiv-Artikel

Chamenei vollzieht eine Wende

SPÄTE ERKENNTNIS Der iranische Revolutionsführer sieht keine Beweise für eine Steuerung der Proteste durch das Ausland. Außerdem sollen brutale Übergriffe bestraft werden

Ahmadinedschad strebt einen islamischen Staat ohne den Klerus an

VON BAHMAN NIRUMAND

Irans Revolutionsführer Ali Chamenei hat am Mittwoch bei einem Treffen mit Studenten in Teheran eine Kehrtwende vollzogen, die nicht nur im Iran, sondern auch im Ausland mit Erstaunen registriert wurde. Die Proteste gegen die umstrittene Präsidentenwahl von 12. Juni seien nicht vom Ausland gesteuert gewesen und die Oppositionsführer hätten nicht mit ausländischen Geheimdiensten zusammengearbeitet. Dafür habe er keine Beweise, sagte Chamenei.

Diese neue Position des Revolutionsführers ist umso überraschender, als er es selbst war, der in seinen bisherigen Reden die Wahlen als völlig korrekt und die Proteste danach als Verschwörung des Auslands, insbesondere des britischen und amerikanischen Geheimdienstes, bezeichnet hatte. Zudem sind die derzeit laufenden Schauprozesse darauf ausgerichtet, den Nachweis zu erbringen, dass das Ausland bei den Unruhen die Hand mit im Spiel hatte. Sämtliche Geständnisse, die offensichtlich durch Folter erzwungen wurden, bekunden eine enge Zusammenarbeit der Hauptakteure bei den Unruhen mit ausländischen Geheimdiensten. Die rechte Presse ruft nach harter Bestrafung der angeblichen Kollaborateure und fragt, warum die Oppositionsführer Mir Hossein Mussawi, Mehdi Karrubi und Mohammed Chatami nicht längst festgenommen worden seien.

Und nun diese Position Chameneis, die diese koordinierte Kampagne in Frage stellt. Damit nicht genug. Der Revolutionsführer wagte noch einen Schritt nach vorn. Er forderte die harte Bestrafung der Basidschi-Milizen und Ordnungskräfte, die Demonstranten brutal behandelt hätten. Er schätze die Arbeit der Milizen bei den Protesten, sagte Chamenei. Das bedeute aber nicht, dass „bestimmte Verbrechen“ nicht untersucht und geahndet würden. Dabei verwies er auf die Überfälle auf Studentenheime und auf die Vorgänge in dem berüchtigten Kahrisak-Gefängnis in Teheran. Auch dürfe man die wegen der Proteste Angeklagten nicht aufgrund von Gerüchten und Vermutungen aburteilen. „Die Justiz kann Urteile ausschließlich auf der Basis von soliden Beweisen sprechen“, erklärte der Revolutionsführer.

Für die Kehrtwende gibt es zwei Erklärungen. Zunächst ist anzunehmen, dass auch Chamenei sich darüber bewusst ist, wie sehr die Nachrichten über Folterungen und Morde in den Gefängnissen, die Schauprozesse und das brutale Vorgehen gegen Demonstranten dem Ansehen des Regimes im In- und Ausland geschadet haben. Selbst die treuesten Anhänger des Revolutionsführers und des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad werden sich fragen, wie ein so menschenverachtendes Gebaren gegen das eigene Volk mit dem Anspruch des Regimes auf den Islam, auf Moral und Humanität in Einklang zu bringen sei.

Zweitens scheint Chamenei eingesehen zu haben, dass er mit der uneingeschränkten Parteinahme für Ahmadinedschad seine eigene Macht und Position als über alle Parteien erhabene Instanz untergräbt. Er verliert die Unterstützung des Klerus und eines großen Teils des staatlichen Establishments. Auch Millionen Gläubige, die ihm bislang zugejubelt haben, werden sich von ihm abwenden. Dabei ist der Weg, den Ahmadinedschad und seine Anhänger bei den Revolutionswächtern seit geraumer Zeit eingeschlagen haben, ohnehin nicht zu Chameneis Gunsten. Denn Ahmadinedschad strebt einen islamischen Staat ohne den Klerus an, was bedeutet, dass er sich eines Tages auch gegen Chamenei stellen wird.