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Archiv-Artikel

Im Rhythmus von Kreuzberg

MYFEST Party machen oder Politik? Beides, sagt Simon Kennedy, Gentrifizierungsopfer aus London

„Die Menschen sagen: Wir leben hier. Das ist unsere Stadt“

Myfest-Besucher Simon Kennedy

Simon Kennedy steht in der Menschenmenge am Oranienplatz, reckt seinen Kaffeebecher in die Höhe und ruft mit britischem Akzent: „Ich bin ein Berliner!“ „Herzlichen Glückwunsch“, raunzt ihn ein Jugendlicher an. Kennedy ist Künstler und vor drei Jahren aus London hergezogen. Den 1. Mai verbringt er auf dem Myfest in Kreuzberg. Warum? „Weil die Idee dahinter stimmt.“ Die Veranstalter wollen mit ein Zeichen gegen Verdrängung und Ausgrenzung setzen. Das Gefühl, im eigenen Kiez nicht gewollt zu sein – der 46-Jährige kennt es nur zu gut.

Bei strahlender Sonne feiern am Dienstag Zehntausende in Kreuzberg 36. Grillrauch hängt in der Luft, Bässe wummern. Touristen mit großen Sonnenbrillen schlürfen Cocktails, Eltern schieben Kinderwagen. Linke Flugblätter werden verteilt.

Kennedy ist ein gebürtiger London-Boy mit Arbeitereltern und jungenhaftem Grinsen. Einer, der nicht so schnell auf die Idee kommt, seine Heimatstadt zu verlassen. „Die Olympiade hat mich vertrieben“, erzählt er in lupenreinem Cockney-Englisch. Kennedy lebte und arbeitete wie viele andere Künstler in Whiteport Lane, einem alten Industriebezirk im Osten Londons, dort baute er Requisiten für Theaterproduktionen. Bis die Stadt die Immobilie aufkaufte, um das Velodrom und eine Schwimmhalle hinzubauen. Kennedy musste nach 20 Jahren raus, die Gebäude wurden abgerissen. Die Mieten in der Gegend konnte er sich nicht mehr leisten. „Das war der Bruch mit London. Mir war klar, da ist kein Raum mehr für mich.“

In Berlin, da sei Raum, sagt Kennedy, schiebt sich die Sonnenbrille ins kurze, graue Haar und schlendert Richtung Mariannenplatz. Der Duft von Couscous-Buletten liegt in der Luft, auf der Bühne legt ein arabischer DJ Orient-Tunes auf, nebenan kurven Kinder auf ihren Rädern um Verkehrshütchen herum.

„Berlin hat finstere Zeiten hinter sich, und jetzt zieht es so viele Menschen von überall her an. Heute zeigt sich, wie offen diese Stadt ist“, sagt Kennedy. Wer sei hier schon gebürtiger Berliner?, will der Brite wissen. Und startet eine spontane Umfrage. Düsseldorf, Ankara, Madeira, Poznan – die Besucher auf dem Mariannenplatz geben Kennedy recht.

Dass Touristen und Zugezogene wie er von manchen Alteingesessenen als Agenten der Gentrifizierung beschimpft werden, ist Kennedy nicht entgangen. „Manchmal fange ich mir ein paar Sprüche“, sagt er. Er kennt das Argument: Wenn die Künstler kommen, ist das der Anfang vom Ende. Kennedy hat mit dieser Rolle kein Problem. „Eine Stadt lebt doch gerade von Reibung und Spannung.“

Die Flaschen in die Tonne

Und was, wenn sich die Spannung in Gewalt entlädt? Vorsorglich sammeln Jugendliche in orangefarbenen T-Shirts Glasflaschen auf. Kennedy blickt ihnen anerkennend hinterher. „In den 80ern hätte ich die unmöglich gefunden“, sagt er. „Da stand ich noch auf der anderen Seite und warf Flaschen bei Anti-Thatcher-Demos.“ Mit seiner Punkband trat er bei Meetings junger Sozialisten auf. „Ich war sehr wütend und destruktiv“, erinnert er sich. Vorbei. Zur 18-Uhr-Demo geht er nicht, er bleibt lieber auf dem Myfest: „Vordergründig sieht es aus wie eine unbeschwerte Straßenparty“, sagt Kennedy. Doch mit dem Fest zeigten die Anwohner Präsenz. „Sie sagen: Wir leben hier, das ist unsere Stadt.“

Auf der Oranienstraße steuern zwei Spanier auf Kennedy zu und fragen, ob er ein Bild von ihnen machen kann. Konzentriert fotografiert der Künstler das Paar. Ob er aus Berlin sei, wollen sie wissen. „So was von“, sagt er und grinst. JOANNA ITZEK