Die Achse des House von Tobias Rapp : Matt funkelnde Fantasie
Nennen wir es Deepness. Nutzen wir die Schönheit eines Begriffs, in dem sich die Liebe, die in der Musik steckt, mit jener nicht zu quantifizierenden Tiefe verbindet, um „We Are Monster“ zu beschreiben, eine der schönsten Platten des Jahres. Vor sechs Jahren brachte Rajko Müller alias Isolee „Beau Mot Plage“ heraus, einen jener Konsenshits, den jeder liebte. Ein Jahr später kam das Album „Rest“ und dann lange nichts.
„We Are Monster“ ist ein Disco-Entwurf, aber ganz eigen, in wenig den Künstlern verwandt, die sich an die Vorlagen aus den frühen Achtzigern anschmiegen. Da kommt mal eine Funkgitarre hereingeschrubbt oder ein Synthesizerstab erinnert an den R & B der Achtziger – das sind aber nur Momente einer Platte, die von einer fast grenzenlosen klanglichen und rhythmischen Fantasie getragen wird. Man nehme etwa das Stück „Schrapnell“: ein eigenwilliges Rockabilly-House-Hybrid, das irgendwann einer Mundharmonika die Melodieführung überlässt, um gegen Schluss mit jenem Knarz-Geräusch zu überraschen, das ein Telefon in seinen Hörer sendet, kurz bevor ein danebenliegendes Handy zu klingeln anfängt. Beim dritten Mal Hören summt man mit. Ob das auch auf der Tanzfläche funktioniert? „Wonderful release, I play 3 tracks!“, ruft einem DJ Hell vom Cover entgegen, und man mag es ihm glauben. Doch in ihrem Reichtum an Ideen, die sie matt funkelnd vor einem ausschüttet, funktioniert diese Musik genauso zu Hause.
Isolee: „We Are Monster“ (Playhouse/Rough Trade)
Die klangliche Wucht der Moderne
Es gelte endlich zu verstehen, dass Popmusik immer retro ist, sagt Andreas Dorau in der aktuellen Ausgabe der Spex und hört man „Boogie Playground“, das Debütalbum von DJ T alias Thomas Koch, ehemaliger Herausgeber des Dance-Magazins Groove und nun Mitbetreiber des Plattenlabels Get Physical, so erkennt man in jedem Stück die Einflüsse, an denen sich entlanggehangelt wird. Ein wenig ist das Produzieren nach Zahlen, was Koch und sein Produzententeam Booka Shade da herausgebracht haben: „Freemind“ arbeitet mit Protohouse-Klängen aus dem New York der mittleren Achtziger, „Rimini“ mit Italohouse-Reminszensen, „A Guy Called Jack“ orientiert sich an frühem Chicago House, „The Calling“ an den düsteren Momente von Electro („Philly“, die schönste DJ-T-Single mit ihren an den Sound von Philadelphia International erinnernden Streichern, ist auf „Boogie Playground“ nicht enthalten).
Das kommt einem mitunter ivor wie die B-Seiten der entsprechenden Vorbilder – wäre da nicht die schiere Gewalt der Sounds. Mit ihnen sind DJ T und Booka Shade im Hier und Jetzt. Anders als etwa Morgan Geist, der sich mit seinem ähnlich gelagerten Metro-Area-Projekt behutsamer an die Klangästhetik vergangener Tage anschmiegt, hat jeder Sound auf „Boogie Playground“ eine Wucht, die jedes Stück, was mit schwächerem Equipment produziert wurde (also alles, was älter als sagen wir mal drei Jahre ist), umstandslos an die Wand drückt.
DJ T: „Boogie Playground“ (Get Physical/Intergroove)
Grau ist viele Farben
Auf rätselhafte Bilder blickt man im Booklet zu „The Night Will Last Forever“, dem neuen Album des Hamburgers Peter Kersten alias Lawrence. In verwaschenen Grautönen schaut man auf eine Urlaubsidylle aus den Dreißigerjahren, schemenhaft erkennbare Kinder tollen über ein Waldlichtung. Doch man sträubt sich gegen die Unschuld, die diese Aufnahmen atmen: Was mag da lauern unter der Oberfläche des fröhlichen Sommernachmittags? Schaut dieser Straßengraben nicht aus, als könnte er auch ein Massengrab beherbergen?
Micro Goth wird diese Musik im angloamerikanischen Sprachraum auch manchmal genannt, zusammengezogen aus Micro House und Gothic – wobei Letzteres mehr mit Edgar Allen Poe als mit hoch toupierten und schwarz gefärbten Haaren zu tun hat. Lawrence ist der Großmeister dieses Genres, und auf Dial, dem Label, das er mitbetreibt, wird diese Kunst des Schichtens musikalischer Grautöne zu einer seltenen Perfektion getrieben. In Feinstabstufungen lagern diese Melancholiefelder neben und übereinander. Manchmal tröpfeln Satie-artige Töne an der Rhythmusspur vorbei, die pumpt wie ein schnell schlagendes Herz. Gerne verwendet Lawrence veränderte Pianotöne oder verfremdete Streicher, um das gleiche Gefühl immer wieder anders anzusteuern: beruhigt zu sein, dass man in seiner Verunsicherung so sanft in der bitteren Schönheit der Mollharmonien eingepackt wird.
Lawrence: „The Night Will Last Forever“ (Ladomat/EMI)