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Archiv-Artikel

„Die Gesellschaft wird nicht aggressiver“

Nicht die Gewalt nimmt zu, sondern die Sensibilität dafür, glaubt der Kriminalismusforscher Christian Pfeiffer

Die Vergreisung der Republik fördert die innere Sicherheit

taz: Herr Pfeiffer, die Polizeigewerkschaft GdP berichtete gestern unter Berufung auf die neue Kriminalstatistik, die Gewaltkriminalität habe einen neuen Höchststand erreicht. Stimmt das?

Christian Pfeiffer: Nein. Es lässt sich eindeutig belegen, woran der Anstieg der Zahlen liegt: Die Anzeigebereitschaft hat wegen der neuen Gesetzgebung gerade im Gewaltschutzbereich erheblich zugenommen. Und da können wir stolz drauf sein.

Erklärt das den gesamten Anstieg der Zahlen bei Körperverletzung?

Es gibt eine weitere Gruppe, bei der die Opferzahlen steigen. Das sind die jungen Leute. Aber auch das ist nur positiv zu bewerten. Wir konnten durch unsere Dunkelfeldforschung zeigen, dass die Jugendlichen nicht mehr so ängstlich sind und mehr anzeigen. Die Polizei hat viel Vertrauenswerbung an den Schulen gemacht, und auch die Direktoren sind heute viel mehr unter Druck, solche Vorfälle der Polizei zu melden. Mit dem Ergebnis: Die Jugendgewalt wird sichtbarer als je zuvor. Vor allem die im Bagatellbereich. Die schwer wiegende Jugendgewalt sinkt objektiv.

Lässt sich das auf die gesamte Gewaltkriminalität übertragen?

Es gibt keinen realen Anstieg der Gewalt. Das liegt nur am Anzeigeverhalten. Im Gegenteil, die Gewalt ist deutlich rückläufig. Wenn die Brutalität zunehmen würde, dann müssten immer mehr Körperverletzungsdelikte umschlagen in Mord oder Totschlag, und damit müsste es mehr Leichen geben. Das ist nicht eingetreten. Wir haben einen stabilen Rückgang der Tötungsdelikte. Der ist gerade auch bei Jugendlichen zu verzeichnen, denen zugeschrieben wird, sie würden immer brutaler. Das stimmt schlicht nicht.

Warum sinken die Zahlen?

Es sind zwei Faktoren, die das auslösen. Zum einen wirkt dabei die Vergreisung der Republik, die die innere Sicherheit fördert. Zweitens ist es auch die steigende Qualität der polizeilichen Arbeit. Das ist höchst erfreulich. Überall steigt die Aufklärungsquote, und das erhöht die Abschreckungskraft stark.

Ist die Gesellschaft aggressiver geworden?

Nein. Sie wird nicht aggressiver, sonst würden wir es an der Zahl der Toten sehen. Das ist der sicherste Maßstab. Und die werden immer weniger.

Interview: Kai Biermann