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Archiv-Artikel

Schilys gute Nachricht

aus Berlin KAI BIERMANNund MADLEN OTTENSCHLÄGER

Otto Schily hatte mal wieder gute Nachrichten: „Deutschland gehört zu den sichersten Ländern der Welt“, sagte der Bundesinnenminister gestern. Er muss es wissen, stellte er doch die Kriminalstatistik für das vergangene Jahr vor. Und die besagt, dass die Zahl der Straftaten im Vergleich zu 2003 „in etwa auf dem gleichen Niveau geblieben ist“. Heutzutage ist so etwas eine gute Nachricht.

Ganz so einfach ist es jedoch nicht, oder, wie es Schily formulierte: „In jeder Statistik gibt es Licht und Schatten.“ Zum Licht gehört, dass die Zahl vieler Straftaten seit Jahren im Sinken begriffen ist. Zum Beispiel wird immer seltener gemordet und totgeschlagen. Im Vergleich zu 2003 verzeichneten die Behörden einen Rückgang um 2,4 Prozentpunkte, im Vergleich zu 1999 waren es sogar 13 Prozentpunkte weniger. 2.480 entsprechende Anzeigen meldet die Statistik für das vergangene Jahr.

Auch bei Banküberfällen, Autodiebstählen, Wohnungseinbrüchen und Handtaschenraub registriert die Polizei seit mehreren Jahren abnehmende Zahlen. Teilweise liegt es daran, dass sich Kriminelle neue Betätigungsfelder suchen. Den sinkenden Diebstahlsdelikten beispielsweise stehen immer mehr Betrügereien mit Kreditkarten und Computern gegenüber – für Schily besteht dabei durchaus ein Zusammenhang.

Doch auch innerhalb der Gewaltkriminalität gibt es Bereiche, die wachsen und nicht sinken. Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen hat im Vergleich zu 2003 um immerhin 5,4 Prozentpunkte zugenommen. Für die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Anlass genug, zu verkünden, dass die Gewaltkriminalität den höchsten Stand seit zehn Jahren erreicht hat. GdP-Chef Konrad Freiberg befand sogar, die gesamte Gesellschaft sei „aggressiver geworden“.

Doch auch das ist viel zu einfach. „Wir müssen auf der Hut sein“, sagte Schily. „Die Kriminalstatistik ist ein Arbeitsausweis für die Polizei und nicht unbedingt ein Beleg für das reale Kriminalitätsgeschehen.“ In der vorgelegten Statistik werden nur solche Taten erfasst, die auch angezeigt wurden. Die unbekannten werden gern mit dem Begriff „Dunkelziffer“ beschrieben. Die Statistik sagt also viel über das Anzeigeverhalten der Deutschen aus. Und das hat sich verändert.

Für Schily eine gute Nachricht, denn mehr Anzeigen bedeuten nach seiner Ansicht, „dass das Vertrauen in die Polizei zunimmt“. Es bedeute aber nicht unbedingt, dass es mehr Straftaten gegeben habe. Doch ließe sich nicht jeder Anstieg nur mit der Zahl der Anzeigen erklären, so Schily. „Es gibt eine Senkung der Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt.“ Gerade unter Jugendlichen würden entsprechende Tabus immer seltener gelten.

Wolfgang Speck, Chef der zweiten Polizeigewerkschaft (DPolG), möchte das wie sein Kollege von der GdP etwas mehr herausstellen: „Für alle Straftäter gilt durch die Bank: Sie sind relativ früh bereit, intensive Gewalt auszuüben. In manchen Bereichen mag die Fallzahl zurückgehen, aber die Stärke der Gewalt, die angewendet wird, nimmt zu.“

Kriminalismusforscher wie Christian Pfeiffer widersprechen dem. Gerade bei der Körperverletzung seien viele Delikte von Frauen angezeigt worden, sagte Pfeiffer der taz. Diese Anzeigen seien nur durch die neuen Gesetze möglich geworden, die Frauen vor Gewalt in der Familie schützen sollen. Ebenso gebe es unter Jugendlichen und unter Lehrern die Tendenz, eher zur Polizei zu gehen, so Pfeiffer (siehe Interview).