: Labyrinth der quadratischen Wege
Dorothea Ratzels „unica“ – eine Hommage an Unica Zürn – auf Kampnagel. Dort geht heute die Reihe „Wieso, Weshalb, Warum – Theater und Wissenschaft“ zu Ende
Zerstückelung und Rekonstruktion von Bewegung ist im zeitgenössischen Tanz eigentlich nichts Neues. Die gesamte postmoderne Choreographie fußt auf diesem Prinzip. Die Hamburger Choreografin und Tänzerin Dorothea Ratzel hat in ihrem jetzt auf Kampnagel uraufgeführten Solo „unica“ das System Tanz einmal mehr durchleuchtet und sich dabei aus der Sicht des starren Regelwerks von Sprache genähert.
Dabei entpuppt sie sich als phantastische Erzählerin, die sich bei aller Präzision und minutiöser Analyse keine Fesseln anlegt. Anagramme, jene Buchstabenrätsel, die genau nach jenem Prinzip des Zerlegens und Neukombinierens von Worten funktionieren, haben es Ratzel angetan. Eine poetische Technik, die sich vor allem die Autorin Unica Zürn zu Eigen machte. Somit ist das Theater-Tanz-Solo „unica“ auch eine Hommage an die Dichterin. Ratzel begibt sich auf die Spuren der eigenwilligen Frau, spinnt aus Texten und Erlebnissen eigene Geschichten.
„Eine junge Frau geht hinaus in die Stadt...“, beginnt sie zu erzählen. Dann steckt sie mit ausholenden Schritten ein Quadrat auf dem schwarzen Boden ab, das sie zunehmend kleiner zeichnet, bis die imaginären Linien ihrer Wege sich auf einen Punkt zurückziehen. Ihre Bewegungen falten die Dimensionen des Raumes auf und wieder zusammen. Ihre Geschichten legen Gedanken aus, deren Fäden „sich im Sande verlaufen“, wie es bei Unica Zürn heißt, und dabei immer wieder auf die erzählende Person zurück verweisen.
Es ist ein hermetisches System, das Unica Zürn in ihrer Dichtung erschaffen hat. Für Dorothea Ratzel wird darin der Tanz zum Motor, der sinnliche Reibung erzeugt, der Imagination und Bedeutungsebenen öffnet und darüber hinaus den Entstehungsprozess einer Solo-Performance erhellend reflektiert. Insofern wird ihr aus Alltagsbewegungen generierter Tanz zum (Selbst-) Beobachtungsgegenstand, der sich gleichzeitig immer wieder in der Abstraktion von der Person entfernt. Ein Tanz über den Tanz, Konzepttanz genannt, der an diesem Wochenende auf Kampnagel im Rahmen von „Theater und Wissenschaft“ auch die Tanzforscher der Mary Wigman-Gesellschaft bei ihrer Jahrestagung beschäftigt. Doch über weite Strecken kann sich Dorothea Ratzel Dank ihrer außergewöhnlichen Präsenz und ihres sensiblen Gespürs für Timing ganz auf ihre Intuition verlassen. Und genau in dieser intelligenten Reibung von Konzept und theatraler Sinnlichkeit liegt die Faszination dieser Performance, in der Phantasie und Leichtigkeit – und der Tanz – am Ende siegen. Marga Wolff