berliner szenen: Mit Gratis-Eis raus aus der Blase
Ich habe eine Sommerbibel. Sie hat 40 Seiten, ist pink-weiß und sieht aus wie ein Retro-Lolli. Sie wirbt mit „1 Sommer 100 Events Umsonst & Draußen“. Ich bin Fan vom Kultursommerfestival, seit ich in Dahlem durch Pfützen gehopst bin mit dem Ziel, mir Musik anzuhören von Leuten, die sich Wunderkammer nennen.
Das Erste, was ich vor Ort gesehen habe, war ein weiß-pinker Rieseneiswagen. Mein Blick blieb an einer Tafel hängen, die das Paradies versprach – jetzt und sofort: EIS GRATIS. Ist das eine Fata Morgana oder Realität, fragte ich mich und hatte das Eis schon in der Hand. Da kann es auch wie aus Gießkannen schütten, dachte ich, und das Leben geht trotzdem weiter! Schon stand ich unter einem pink-weißen Sonnenschirm und wurde trotzdem pitschnass. Ich holte mir ein neues Eis und ging rein ins Café, denn da spielte jetzt die Musik. Ich versuchte, mein Kleid trocken zu wedeln, schleckte am Eis und ließ Klavier und Geige durch mich strömen. Ein Gruß aus dem 19. Jahrhundert. Emilie Mayer, noch nie gehört. Kein Wunder, denn die männlich dominierte Nachwelt hat die bekannte Komponistin einfach unter den Teppich gekehrt. Bewegt schaute ich zu den Leuten im Raum, die mit mir Emilie Mayer aus der Versenkung holten.
Inzwischen habe ich meine Lieblingseissorten und lasse mich, wenn ich komme, sofort in einen pink-weißen Liegestuhl fallen. Ich mag, wie sich der öffentliche Raum durch das verspielte Pink-Weiß verändert. Ich mag, dass hier Leute zusammen was erleben, die sich sonst in getrennten Welten aufhalten.
Ich sitze an der Spree, höre kubanische Rhythmen, die vom Wasser kommen, und denke: Wenn das nicht gelebte Utopie ist! Auf jeden Fall erhöht es die Toleranzgrenze, holt dich raus aus deiner Blase und beschenkt dich mit Momenten, die bleiben. Katja Kollmann
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