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Archiv-Artikel

Der Breivik in uns

Die Empörung über Anders Behring Breiviks Aussagen zu Beginn des Prozesses wegen des Mordes an 77 Menschen war allgemein. Aber die Reaktionen der Medien blieben in ihrer Sprachlosigkeit weit hinter dem Gegenstand der Empörung, nämlich Breiviks Rede, zurück. Die Berichterstatter waren mehr mit ihren Befindlichkeiten beschäftigt als mit dem Inhalt dessen, was Breivik von sich gab. Doch selbst wenn man das für den bloßen Ausfluss eines kranken Gehirns hielte – wenn man seine Auswirkungen in der Zukunft verhindern will, tut man gut daran, sich damit auseinanderzusetzen, statt in der Pose der Entrüstung zu erstarren

von Thomas Rothschild

Dass es den Journalisten vor Ort die Sprache verschlug, hat eine Voraussetzung: Sie betrachten Breivik und seine Denkweise als das ganz Andere. Unser ethisches Kategoriensystem scheint ihnen auf diesen Menschen nicht anwendbar. Sie tun geradezu so, als sei da ein Wesen von einem anderen Planeten gelandet, das mit unsereins, mit unserer Geschichte und unserer Gesellschaft nichts verbindet. Dem ist aber nicht so. Bei genauerer Betrachtung lassen sich Breiviks Ansichten, auch wenn sie noch so ekelhaft und wirr erscheinen mögen, in weit zurückreichende und gar nicht so wenig verbreitete Traditionen einordnen. Mehr noch: ihre nur wenig abgewandelten Varianten wirken auch heute weit in unsere Gesellschaft hinein.

Von einer Überzeugung zur Anmaßung, töten zu dürfen

Gleich in seiner erster Erklärung vor Gericht sagte Breivik unter anderem: „Wenn ich 70 Leute umbringen muss, um die politische Richtung in unserem Land zu ändern, dann tue ich das. Am Schluss rette ich damit Leben, weil ich einen Bürgerkrieg verhindert habe. Wenn wir weitere dreißig, vierzig Jahre warten, werden die Norweger eine Minderheit im eigenen Land sein.“ Und weiter: „Ich würde es wieder tun. Weil es eine Beleidigung für mich und meine Kameraden ist. Kulturelle Marxisten und kulturelle Liberale – die Jugendparteien von ihnen sind brainwashed und naiv.“

Von der Überzeugung, dass die Norweger eine Minderheit im eigenen Land werden könnten, zur Anmaßung, jene töten zu dürfen, die diesen befürchteten Prozess beschleunigen, ist es nur ein Schritt. „Die gebürtigen Norweger sind ein aussterbendes Volk. Das ist ungerecht und inakzeptabel. Dieser Prozess soll die Wahrheit ans Licht bringen. Wenn er das wirklich tut, wird sich die Frage stellen, warum das, was ich tat, überhaupt illegal war.“ Thilo Sarrazin zieht nicht die gleichen Folgerungen wie Breivik, er handelt nicht wie er, aber was die Voraussetzungen betrifft, ist er, in Bezug auf die Deutschen, nicht weit von ihm entfernt. Und Sarrazin, das muss man in diesem Kontext erwähnen, steht nicht vor Gericht, sondern ist Mitglied der SPD.

1883 lässt Breiviks Landsmann Henrik Ibsen seinen „Volksfeind“ Stockmann sagen: „Woraus besteht denn in einem Lande die Mehrheit der Bewohner? Aus den klugen Leuten oder aus den dummen? Wir sind, denke ich, uns wohl darin einig, dass die Dummen in geradezu überwältigender Majorität rings auf der weiten Erde vorhanden sind. Aber zum Teufel noch mal, es kann doch nie und nimmer in Ordnung sein, dass die Dummen über die Klugen herrschen!“

Zwei Jahrzehnte später fragt der junge Felix Wegrath in dem Theaterstück „Der einsame Weg“ von Arthur Schnitzler, der vor 150 Jahren am 15. Mai geboren wurde, den Maler Julian Fichtner, der dessen Mutter vor Jahren nach einer Liebesnacht verlassen hat: „Und wenn sie sich getötet hätte?“ Und Julian erwidert: „Ich glaube, ich hätte mich dessen für wert gehalten – in dieser Zeit.“

Befugt, selbst den Tod eines Menschen zu akzeptieren

Julian ist der Prototyp des genialen oder sich zumindest für genial haltenden Künstlers, der sich einbildet, dass für Menschen wie ihn andere Regeln gelten als für andere Menschen. Seine Begabung befugt ihn, selbst den Tod eines Menschen zu akzeptieren. Nur drei Jahrzehnte später hätte Schnitzler nicht überlebt, weil Menschen sich berechtigt fühlten, aufgrund ihres eingebildeten „Herrenmenschentums“ Menschen jener „Rasse“, der Schnitzler angehörte, zu beseitigen. Zum Glück ist Schnitzler vorher eines natürlichen Todes gestorben.

In Alfred Hitchcocks Film „Rope“ planen zwei junge Männer den perfekten Mord, der ihre intellektuelle Überlegenheit beweisen soll. Der negative „Held“ Brandon Shaw sagt an einer Stelle: „Gut und böse, richtig und falsch wurden für den gewöhnlichen durchschnittlichen Menschen erfunden, den minderwertigen Menschen, weil er sie benötigt.“ Sein „Lehrmeister“ Rupert Cadell erklärt in einem Dialog: „Mord ist schließlich eine Kunst – oder sollte es sein. Nicht eine der ,sieben freien Künste‘ vielleicht, aber nichtsdestoweniger eine Kunst. Und als solche sollte das Privileg, ihn zu begehen, für jene wenigen reserviert sein, die wirklich überlegene Individuen sind.“ Und Brandon Shaw ergänzt: „Und die Opfer: minderwertige Wesen, deren Leben sowieso unwichtig sind.“

Der Kern von Schuld und Sühne

Schon lange vor Hitchcock, Schnitzler und Ibsen hat Dostojewski in jenem Roman, der bei uns unter den Titeln „Raskolnikow“, „Schuld und Sühne“ oder „Verbrechen und Strafe“ bekannt ist, folgenden Dialog formuliert:

„ ,Erlaube mal, ich möchte dir eine ganz ernsthafte Frage vorlegen‘, fuhr der Student, hitzig werdend, fort. ,Ich habe jetzt eben natürlich nur im Scherz gesprochen; aber überlege mal: auf der einen Seite steht ein dummes, verdrehtes, wertloses, boshaftes, krankes, altes Weib, das niemandem nützt, sondern im Gegenteil allen Leuten nur schadet, das selbst nicht weiß, wozu es eigentlich lebt, und nächster Tage ganz von selbst sterben wird. Verstehst du wohl? Verstehst du wohl?‘

,Nun ja, das verstehe ich schon‘, erwiderte der Offizier und blickte seinen Bekannten, der stark in Eifer geriet, unverwandt und aufmerksam an.

,Höre weiter! Auf der andern Seite stehen junge, frische Kräfte, die, ohne der Welt nützen zu können, zugrunde gehen, weil sie keine Unterstützung finden, und zwar zu Tausenden, allüberall. Hundert, tausend gute Taten und Unternehmungen könnte man für das Geld der Alten, das sie einem Kloster zugedacht hat, ausführen oder fördern. Hunderte, vielleicht Tausende von Existenzen könnten in die richtige Bahn geleitet, Dutzende von Familien vor größter Armut, vor dem Verfall, vor dem gänzlichen Ruin, vor Unsittlichkeit und Geschlechtskrankheiten bewahrt werden – und alles das vermittels ihres Geldes. Wenn man sie ermordet und ihr Geld nimmt, um dann mit dessen Hilfe sich dem Dienste der ganzen Menschheit und der Sache der Allgemeinheit zu widmen: was meinst du, wird dann nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten Taten aufgewogen? Für ein Leben Tausende von Leben, die von Fäulnis und Ruin gerettet sind? Ein einziger Tod, und dafür hundert Leben – das ist doch ein einfaches Rechenexempel! Ja, und was bedeutet auf der großen Weltwaage das Leben dieses schwindsüchtigen, dummen, boshaften alten Weibes? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Schabe, sogar noch weniger, weil die Alte geradezu schädlich ist.‘ “

Man muss sich nur, wie Breivik und nicht er allein, einbilden, dass man der „Sache der Allgemeinheit“ einen Dienst erweist, wenn man die Norweger vor dem Aussterben bewahrt oder Deutschland davor, dass es sich abschafft – und der Preis von 77 jungen Menschen scheint nicht so viel höher als der einer alten Pfandleiherin.

Es geht hier nicht um die diffizile Problematik des Tyrannenmords, wie sie etwa Friedrich Schiller im „Wilhelm Tell“ oder Albert Camus in den „Gerechten“ diskutieren, sondern um das vermeintliche Recht des Stärkeren, die Schwächeren zu beherrschen und im Extremfall auszurotten.

Das Recht, für uns an Hunger zu sterben

Und wir zivilisierten Menschen, denen es die Sprache verschlägt, wenn einer 77 Menschen ermordet und sich nicht schuldig fühlt, weil er sich zu diesen Morden berechtigt wähnt? Natürlich würden wir selbst keinen Mord begehen. Aber wir schweigen, wenn in Ärztejournalen nachgerechnet wird, wann man bei Intensivpatienten die Apparate abstellen soll, weil sie, falls sie überleben, die Kosten, die sie verursachen, nicht mehr einarbeiten können. Wir nehmen es hin, dass täglich etwa 25.000 Menschen an Hunger sterben. Wir lassen den vermeidbaren Tod von Menschen zu, weil wir davon überzeugt sind, dass wir ein größeres Recht haben als sie, uns zu ernähren. Das sprechen wir so deutlich nicht aus, aber wir handeln danach. Spätestens, wenn wir von unserem Reichtum etwas abgeben, ihn gar mit der Dritten Welt gerecht teilen sollen. Der Kolonialismus, der die Überzeugung von der Überlegenheit der Kolonisatoren und der Minderwertigkeit der kolonisierten Völker zur Grundlage hatte, lebt in unterschiedlichen Formen fort.

Der Breivik in uns verhüllt seine Unmenschlichkeit in einer humanistischen Rhetorik. Aber die Opfer jener Gesinnung, die der Bevölkerung in den wenigen reichen Ländern dieser Welt gestattet, für sich zu beanspruchen, was sie anderen vorenthält, zahlen den gleichen Preis wie die 77 Toten von Norwegen.

Könnte es sein, dass wir deshalb so sehr über Breivik empört sind, weil er mit brutaler Deutlichkeit sichtbar macht, was wir so sehr zu verbergen suchen: dass wir uns mit einer Welt arrangiert haben, in der es schützenswertes und wertloses Leben gibt – und dass wir, versteht sich, uns auf der richtigen Seite befinden? Sind wir also, anders als Breivik, unschuldig?

Thomas Rothschild, geboren in Glasgow und aufgewachsen in Wien, ist promovierter Literaturwissenschaftler, Autor und Journalist. Der streitbare Geist war Hochschullehrer an den Instituten für Linguistik und für Literaturwissenschaft der Uni Stuttgart und Mitglied des Kulturausschusses der Stadt Stuttgart. Seit 2011 ist Rothschild Präsidiumsmitglied des deutschen Schriftstellerverbands P.E.N.