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Archiv-Artikel

Dem Leben näher treten

WALDEN Zum 150. Todestag des US-amerikanischen Schriftstellers und Philosophen Henry David Thoreau ist nun erstmals sein Buch „Wilde Früchte“ auf Deutsch erschienen

VON RUDOLF WALTHER

Am 6. Mai vor 150 Jahren ist der Lehrer, Landvermesser und Schriftsteller Henry David Thoreau in Concord (Massachusetts) gestorben. Hier wurde er am 12. Juli 1817 geboren und verließ den Ort nur selten und für kurze Zeit.

Er galt schon zu Lebzeiten als kauziger Sonderling und blieb einem breiteren Publikum nur durch einen fulminanten Essay bekannt: „Resistance to Civil Government“ (1849), deutsch erstmals 1967 unter dem Titel „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Der unbeugsame Nonkonformist engagierte sich für Steuerverweigerung ebenso wie für John Brown, den Freischärler und militanten Kämpfer gegen Sklaverei, der 1859 gehenkt wurde. Thoreau war ein politischer Kopf, aber kein politischer Aktivist. Er liebte die Einsamkeit und lebte für zweieinhalb Jahre in einer Blockhütte am Waldensee bei Concord mit dem Bekenntnis: „Ich bin unendlich gern allein.“

In seinem Buch „Walden; or Life, in the Woods“ (1854) beschrieb er sein Leben als Einsiedler und suchte eine Antwort auf die Frage: „Wie soll ich leben?“ Aus Anlass des 150. Todestages brachte der Zürcher Diogenes Verlag jetzt ein Hörbuch mit Auszügen aus „Walden“ heraus. Der brillante Sprecher Burghart Klaußner dokumentiert auf einer CD das Experiment der Selbstbeobachtung Thoreaus in und mit der Natur. „Eine Wohnung ohne Vögel“, empfand Thoreau, sei wie „Fleisch ohne Gewürz“. Aber er holte die Vögel nicht etwa in seine Blockhütte, sondern verlegte den eigenen „Käfig in ihre Nähe“: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben – dem eigentlichen und wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das Leben, das nicht Leben war“, d. h. das Leben von „Konsummaschinen“ im „Schlamm und Kot der Meinungen, der Vorurteile der Tradition, der Täuschung und des Scheins“.

Wie sein Leben mit „nicht nur rudimentären Augen“ aussah, dokumentiert die erstmals ins Deutsche übersetzte Schrift „Wild Fruits“ unter dem Titel „Wilde Früchte“ im Manesse Verlag. Man kann die sorgfältige Übersetzung und wissenschaftlich kommentierte Edition des Journals von Thoreaus minutiösen Beobachtungen über den Entwicklungsstand, die Blüte- und Fruchtbildung von Pflanzen bei nicht weniger als 182 botanischen Arten und Unterarten nicht anders als eine kulturpolitische Pionierleistung beschreiben.

Thoreau ergänzt seinen präzisen Kalender des zyklischen Naturverlaufs mit Beschreibungen seiner Geschmacks- und Geruchseindrücke sowie Hinweisen auf die wissenschaftliche botanische Literatur oder poetische Naturbeschreibungen von der Antike bis zur Aufklärung. Er mischt deskriptiv-analytische Beobachtungen mit ästhetisch-subjektiven Urteilen auf einzigartige Weise: „Der Wert der wild wachsenden Früchte liegt nicht im Besitz oder Genuss, sondern bereits im Anblick.“ Als gebildeter Umweltschützer avant la lettre kommentierte er den Holzeinschlag mit einem Shakespeare-Vers: „ein schlimmer Wind, der keinem bläst zum Heil“.

Naturerfahrung begreift Thoreau als Einsicht in die göttliche Offenbarung, ohne dabei in Naturschwärmerei oder religiösen Fundamentalismus zu verfallen. Als radikaler Zivilisationskritiker sieht er die kommerzielle Vermarktung von wilden Früchten skeptisch-gelassen: „Wir arrangieren uns und nehmen eine Herabwürdigung der Beeren in Kauf – ihre Versklavung sozusagen.“ Dass auch republikanische Patrioten, zu denen er sich zählt, Birnen, die nach Königen und Königinnen benannt wurden, essen, nimmt er hin mit der Erwartung: „Die nächste Französische Revolution wird es richten.“ Gleichzeitig findet es Thoreau weder recht noch billig, dass die indianischen Namen für Beeren (zum Beispiel „Herzbeere“ für Erdbeere) durch „sehr ungenügende griechische und lateinische oder auch englische Bezeichnungen“ ersetzt wurden.

Thoreau sieht bereits den Zusammenhang von Naturzerstörung und Geschichtsverlust, der von ökologischer wie politischer Aktualität ist: Eichen, die schon standen, als in den Neuenglandstaaten das Land „aus indianischem Besitz in den des weißen Mannes überging“, fällte der „Vandalismus der wenigen“ bedenkenlos, während ein Museum entstand, wo „1775 ein britischer Soldat“ vielleicht „eine Patronenschachtel erbeutete“.

Das typografisch grandios gestaltete Buch mit Zeichnungen Thoreaus und prächtigen Illustrationen Sonja Schadwinkels ist ein Meisterstück und wird dem einmaligen Werk gerecht.

Henry David Thoreau: „Wo und wofür ich lebe“. Aus dem Englischen von Emma Emmrich und Tatjana Fischer. Gelesen von Burghart Klaußner. Diogenes Verlag, Zürich 2012, 1 CD (87 Minuten), 17,90 Euro

Henry David Thoreau: „Wilde Früchte“. Herausgegeben von Bradley Dean. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Illustrationen von Sonja Schadwinkel. Manesse Verlag, Zürich 2012, 320 Seiten, 99 Euro