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Archiv-Artikel

Im Taxi durch eine Heimat

TRANSIT In Afghanistan geboren, in Deutschland aufgewachsen: Sahar Nadis Geburtsland ist für sie Sehnsuchtsort und Phantasma in einem. Eine Suche

VON SAHAR NADI

Mit sechs Jahren wurde ich nach Deutschland gebracht. Nicht freiwillig, wir mussten fliehen. Als von Raketen zerfetzte Soldaten in Kabul vor der Schule meiner Schwester lagen, wollten meine Eltern endgültig weg. Bloß weg. Sie hatten schon zu lange gewartet. 1989 war es. Meine Mutter telefonierte. Ich saß auf dem Fenstersims vor ihr. „Holt eure Tochter ab, sie bombardieren schon unsere Kinder.“ Meine Mutter vergaß, mich vom Sims runterzuheben.

In der Erinnerung an das Land, das ich nicht mehr gesehen habe, verschwimmen Tatsachen und Fiktion zu einem verworrenen Bild. Da ist der riesige Hof meiner Großeltern: die Rebstöcke, die sich die Hofmauer entlangschlängeln, das stinkende Plumpsklo, der gestampfte Lehmboden, die anderen Kinder. Wie gegengeschnitten das Glöckchenband, mit dem ich in der modernen Wohnung meiner Eltern in der Plattenbausiedlung im Viertel Makrorayan gern spielte. Die Häuser waren von den Sowjets gebaut. Im Krieg der Mudschaheddin standen die Straßen dort ständig unter Beschuss. Viele haben ihre Wohnungen nicht verlassen. Draußen auf den Straßen lagen ihre Toten. Unbeerdigt. Aber ich kenne diesen Krieg nur als Erzählung. Die Farben, Gerüche, Bewegungen und Traumata meiner Kindheit sind ohne Wirklichkeit.

Ohne Visum

Das Flugzeug sinkt. „Bitte schnallen Sie sich an.“ Ein Zittern, innerlich, kaum spürbar. Feuchte Hände – Echo der Ungewissheit. In der Ferne die schneebedeckten Berge. Einmal war ich hier. Oder noch nie? Unruhe vor dem, was mich nach zwei Jahrzehnten in Afghanistan erwartet. Meine Gedanken überschlagen sich. Das also ist das Land, das wir Hals über Kopf verließen? Unvergessen die Angst in den Augen meiner hochschwangeren Mutter, als wir mit falschen Papieren flüchteten. Mit Koffern zum Flughafen, mein Vater, meine zwei Schwestern, meine Mutter – sie in einem wallenden Kleid, das ihre Schwangerschaft verbarg, ich auf ihrem Schoß. „Schlaf, schlaf“, sagte sie, als wir im Flugzeug saßen.

Hart setzt die Maschine auf der Landebahn auf.

In der kleinen Eingangshalle des Kabuler Flughafens wird nicht nach Nationalitäten getrennt. „All Passports“ heißt es über den Schaltern. „Next.“ Die Schlange rückt vor. „Next.“ Vor mir steht eine afroamerikanische Soldatin, die versucht, ihre lockigen Haare unter das Kopftuch zu stecken. „Next.“ Der Kontrollbeamte nimmt meinen Pass, schaut mir ins Gesicht, wieder auf den Pass, wieder ins Gesicht: „Wie lange waren Sie nicht mehr hier?“ Ich antworte sofort: „22 Jahre.“ Panik, was, wenn? Ich habe kein Visum, brauch eigentlich keins, weil ich in Afghanistan geboren wurde, fehlt es jetzt doch? Mein deutscher Pass – ein Makel? Ich, die Verräterin? „Willkommen in Ihrer Heimat“, sagt er. Ein Lächeln huscht ihm übers Gesicht. Mir auch. Über Lautsprecher: „Don’t leave your baggage unattended at any time.“ Es riecht nach Schweiß, Erde, Benzin und Schnee.

Ich renne, den Schleier fest um mein Gesicht gezogen, in die Ankunftshalle hinein – kaum dort, schon hier – und beginne zu frieren: Die groben, sonnengegerbten Gesichtszüge der afghanischen Flughafenarbeiter wirken abweisend, ihre neugierigen, auch unverhohlen lüsternen Blicke widern mich an. Ich fühle mich schutzlos, will mich verstecken. Als ich am Ausgang von einem Freund meiner Eltern abgeholt und durch die Menge geführt werde, ist es, als stülpe ich mir eine neue Identität über: respektiert, weil in männlicher Begleitung. „Rede nicht Dari, in Augenblicken, in denen du dich unwohl fühlst, rede Englisch“, sagt er, „das schützt dich.“

Anfang März verwandelt der schmelzende Schnee die ungeteerten Straßen Kabuls in einen Brei aus Schlamm, Autos versinken darin. „Nein nein, die Straßen sind viel besser als früher“, wehrt der alte Taxifahrer mit Vollbart und traditionellem Pakol-Hut auf dem Kopf ab. Er tritt hart aufs Gaspedal, lässt den Motor aufheulen und hievt seinen Wagen aus dem Graben, in den er auf dem Weg in die Stadt gerutscht war. Eisiger Wind weht durch das halb geöffnete Fenster.

Der Mutterberg

Aus der Ferne wirken die hohen Berge, die Kabul malerisch umrahmen, wie hingetuschtes blaues Wasser. Mit jedem Kilometer, den wir näher kommen, wird es schmutziger. Die Stadt hat die Farbe des Sandes, marode Bauten reihen sich aneinander, farblos und trist. Unzählige, kleine Lehmhäuser kleben an den Hängen, vor allem Asamai – der Mutterberg – mitten in Kabul ist fast bis zum Gipfel bebaut. In Kanistern tragen die Bewohner das Wasser hinauf. Im Ballungszentrum Kabul, gedacht für höchstens eine Million Menschen, leben jetzt mindestens fünf Millionen. Müllcontainer quellen über, Hunde streunen herum.

Schnulzige Bollywood-Songs tönen aus den Lautsprechern am Straßenrand, schäbig gekleidete Händler rufen ihre Waren aus und werden vom Hupen der vorbeifahrender Autos übertönt. Fußgänger und Fahrradfahrer schlängeln sich im stockenden Verkehr an den Autos vorbei. Der Taxifahrer schlägt verärgert gegen das geschlossene Fenster. Auf der anderen Seite drückt ein Junge sein Gesicht an die Scheibe. Seine Augen so dunkel, sein Mund offen, als sage er ein Wort.

Der Taxifahrer beobachtet mich im Rückspiegel. Als ich das Fenster herunterkurbeln will, sagt er, ohne mich anzuschauen: „Geben Sie Ihr Geld nicht den Kindern, sie werden dadurch verdorben. Geben Sie es den alten Menschen, den Frauen.“ Ohne Gesichter klopfen diese ans Fenster, strecken die rissigen, staub-verschmierten Hände unter den blauen Burkas hervor, „Schwester, Schwester.“ Mehr sagen sie nicht. Wer zuerst den Blick senkt, ist verloren.

Bin ich hier wirklich einmal zuhause gewesen? In einem Land, in dem ich mich nicht frei bewegen kann. Einem, in dem ich auf der Straße mit Augen angestarrt werde, als sagten sie: Du Frau du. Einem, in dem ein Mann als Begleiter einzige Legitimation ist. Unangenehm. Eigenartig. Kalt. Ich sehe viele Frauen, die sich unter einer Burka verstecken, und verstehe: Es gibt das Bedürfnis, unsichtbar zu sein. Ich hoffe, das legt sich wieder.

Als die Warlords ab den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Land beherrschten, blieben Frauen lieber zuhause, um nicht entführt oder vergewaltigt zu werden. Aber erst die islamistischen Taliban sorgten ein paar Jahre später dafür, dass Frauen unsichtbar wurden. Sie mussten sich in der Burka verhüllen, durften das Haus ohne Mann nicht verlassen, durften nicht zur Schule, keine Arbeit annehmen. Obwohl die Regierung von Präsident Hamid Karsai nach 2001 die Gesetze lockerte, ist die Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben nach wie vor stark beschränkt.

Im Taxi mit Frauen

„Wir können uns hier ohne Männer nicht frei bewegen, das ist zu gefährlich“, sagt Rabia, eine Verwandte. Die 23-jährige wiegt ihren jüngsten Sohn im Arm, während sich ihre Tochter an sie schmiegt und ihr Ältester um sie herumtollt. Später im Taxi, das sich hupend den Weg zum Markt bahnt, erzählt sie, dass sie heiraten musste. Sie brauchte jemanden, der sie versorgt. Der Vater tot, die Mutter mittellos. „Mein Schwiegervater sagte, dass ich studieren dürfe, danach aber zuhause bleiben müsse. Wozu dann noch lernen?“ Auch ihre 19-jährige Schwester, seit drei Jahren Mutter und bereits Witwe, darf nicht arbeiten gehen. Beide leben in einem wohlhabenden Haushalt. Weil Entführungen, Erpressung, auch Mord aus Habgier zum Alltag der gefährlichen Großstadt gehören, sind Wohlhabende wie sie besonders gefährdet. Rabias Sohn sitzt vorne im Auto, beim Bodyguard. Sie wechselt das Thema: „Und du willst Journalistin werden? So ganz allein?“ Das Auto bremst, eine verschleierte Frau klopft an die Scheibe. „Erzähl mal, wie ist es in Deutschland? Wie laufen die Leute da rum? Haben sie Geld?“

Die äußeren Unterschiede zwischen den Bettlern, Straßenverkäufern und Passanten sind gering. Die Sonne von Kabul, das fast zweitausend Meter hoch liegt, gerbt die Haut aller, der Schlamm zerstört jedes Schuhwerk, feiner Lehm- und Sandstaub hüllt alles ein. Farbiges, die Tortenhäuser der Reichen, sehe ich erst, seit ich weiß, dass sie da sind. Auch die riesigen Hochzeitssäle, an denen bunte Neonlichter blinken.

Das arme und gleichzeitig reiche Kabul: Die, die Geld haben, stecken es in den Bau ihrer neobarocken Villen und die Sicherheitsanlagen drum herum. Meterhohe Mauern, Kameras, Wachleute. Ein Minister, der seine Straße nur bis zu seiner Haustür pflastern lässt, das ist Afghanistan. Zuerst kommt die Familie und dann sehr lange nichts.

Die Plattenbauten von Makrorayan aber sind verwahrlost, den Hof meiner Großeltern gibt es nicht mehr. Als ob alles ausgelöscht wurde. Als ob es nie war.

Ich möchte ein anderes Kabul sehen.

Nach einigen Tagen nehme ich in der erdigen Monotonie, die über der Stadt liegt, immer mehr junge Mädchen und Frauen in modischen Jeans, kurzen Mänteln und lockeren Schleier wahr. Ich atme auf. Da, wo sie sind, ist eine Tür offen – auch für mich. Ich gleite hinein, wie eine transparente Murmel, die sich immer unter farbigen befunden hat und nun zwischen gleichen rollt.

Durch Checkpoints

Bärtige Polizisten mit Kalaschnikows stehen an den unzähligen Checkpoints in der Hauptstadt und kontrollieren die Autos. „Wir haben Frauen bei uns.“ Der junge Ilyas, ein Cousin, lächelt kurz, als ihm der Bewaffnete erlaubt, weiterzufahren. „Wenigstens behelligen die einen nicht, wenn Frauen mitfahren.“ Er und seine Schwester Beheshta gehören zu einer neuen Generation von Afghanen, sie sind Heimgekehrte. In der Taliban-Ära flohen sie nach Pakistan, entschieden sich aber vor zwei Jahren zurückzugehen. „Dieses Land ist nicht einfach. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne schlecht und als Frau hat man es eh schwer.“ Das Taxi fährt durch das Neustadt-Viertel Shar-e-Nau und biegt in die Sulh-Road, die Friedensstraße. Am Straßenrand stehen die Buchhändler – ihre Bücher aufgereiht am Gatter eines Parks.

Die Heimgekehrten sind nun die intellektuelle Elite, sie verändern das Bild ganz langsam von innen heraus. „Seit ein paar Jahren gibt es mehr Frauen, die sich so kleiden wie ich.“ Das eng anliegende, schwarz-weiße Jackett betont ihre schmale Figur, ihr Schleier liegt locker auf den dunklen Haaren. Sie und ihr Bruder arbeiten in einer Bank, die Bezahlung sei schlecht, aber Freizeitangebote gäbe es in Kabul kaum, da sei der Job eine Abwechslung, sagt sie. Und dann: „Als Deutsche fällt dir das Schleiertragen bestimmt schwer?“

Ilyas und Beheshta fürchten sich vor dem Jahr 2014, wenn die Alliierten gehen. Die Angst ist ein fester Bestandteil des afghanischen Lebens geworden. „Wir sind müde“, sagt der Taxifahrer. Der Geruch von verbranntem Holz, von Kabab, von frischem Fladenbrot dringt durch das Fenster. Marktgeschrei der Straßenhändler. „Kommen Sie!“ „Kosten Sie unser leckeres Fleisch!“ „Ein Brot nur zwanzig Afghani!“ Die neonfarbenen Schilder der Buden stärken den sanften Ton, den die Stadt in der Dämmerung bekommt. Ilyas steigt aus, um Kabab zu holen. Plötzlich rennt ein Junge mit einer qualmenden Blechdose in der Hand auf das Auto zu und umrundet es mehrmals. „Spand, bala band!“ Der Weihrauch soll uns schützen und vor dem bösen Blick bewahren. „Spandtschi“ werden diese Kinder genannt. Sie betteln nicht, sie verkaufen ihren Rauch.“

Es fällt schwer, sich vorzustellen, in diesem Land gelebt zu haben. „Bist du Afghanin oder Deutsche?“, fragen mich alle.

Beides.

Irgendwie.