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Archiv-Artikel

Im Schatten des Zerfalls

VON LUKAS WALLRAFFUND ULRIKE WINKELMANN

Bei den Damenmoden steht ein FDP-Abgeordneter. Er schaut seiner Freundin dabei zu, wie sie meditativ die Finger über die Kleiderbügel gleiten lässt. Er guckt versonnen. Ein Shopping-Idyll in Berlin-Mitte, während draußen ein ekelhaftes Wetter namens Schafskälte herrscht.

Wer kommt, darf warten

So leicht und frei ums Herz ist es den Liberalen derzeit. Sie glauben einfach, abzuwarten zu können, bis ihnen die Macht in den Schoß fällt. Bis dahin singen sie ihren Schlager von der Steuersenkung, zu dem ihnen dann in einer Koalition mit der Union auch die Strophen einfallen werden, warum nun dieser oder jener Kompromiss nötig war.

Die Union ist schließlich eine Volkspartei. Sie braucht die Mitte der Gesellschaft. Die verlangt nach mehr als Steuersenkungen. Natürlich werden CDU und CSU deshalb noch über große Widersprüche stolpern. Wie wollen sie das Gesundheitssystem umfinanzieren, gerechter machen, ohne die Steuern zu erhöhen? Wie wollen sie bei den Arbeitslosen überhaupt noch kürzen?

All die zweitmächtigsten Unions-Politiker hinter Angela Merkel erklären derzeit erstens, nur sie, die CDU-Chefin, wolle und verkörpere den radikalen Wechsel, den das Land brauche. Zweitens aber fordern sie, Hartz IV müsse korrigiert, ältere Arbeitslose müssten länger unterstützt werden – übrigens die Forderung, die noch vor wenigen Monaten bewies, dass Oskar Lafontaine ein wirklich finsterer Kommunist ist. Vielleicht will die Union ihre neoliberale Absicht bloß ein bisschen sozial ummanteln. Vielleicht will die Union aber auch ihre gar nicht vorhandene Absicht ein bisschen neoliberal ummanteln. Man weiß es nicht.

Doch weil das politisch interessierte Publikum gebannt auf den rot-grünen Machtzerfall starrt, kann sich Merkel entspannt zurücklehnen. Ihre Strategie ist stilles Genießen, mehr ist bisher nicht nötig. Die Koalition füllt mit ihrem Selbstmordtheater die Presse ganz von selbst. Ab und zu bringen die Zeitungen eines der besonders vorteilhaften Bilder von Merkel, jedes einzelne ein Glückwunsch an die Kandidatin. Es geht als selbstverständlich durch, dass die Union bis zum 11. Juli über ihr Wahlprogramm nachdenken darf. Nur die SPD, die soll jetzt schon jeden Tag erklären, wo sie steht und was sie will.

Anruf bei einem SPD-Linken: gar nicht so leicht. Das Telefon ist besetzt. Sie sind jetzt plötzlich viel beschäftigt, sind wieder wichtig. Scheint es. Über die Linken in der SPD wird so viel geschrieben wie noch nie seit sechs Jahren, seit sich ihr Anführer Oskar Lafontaine einfach aus dem Staub gemacht hat. Keinem von ihnen gelang es, die Lücke auszufüllen, die er hinterließ. Seine Flucht hat sie gelähmt. Sprachlos sahen sie zu, wie ihr Oskar außerparlamentarische Opposition ausgerechnet in der Bild-Zeitung betrieb, wie er aussprach, was sie dachten, aber nicht zu sagen wagten. Seine Illoyalität zwang sie, die treuen Sozialdemokraten, erst recht Solidarität zu beweisen, also den wichtigsten Wert der Partei hochzuhalten. Das hat sie fast kaputt gemacht. Weil sie glaubten solidarisch sein zu müssen – ausgerechnet mit Gerhard Schröder, den sie nie mochten, der aus ihrer Sicht unsolidarische Politik betrieb.

Mut- und kraftlos trotteten sie dem Kanzler hinterher, nickten seine Agenda ab, verteidigten seine Politik bis zur Selbstverleugnung. Nur wofür? Es hat es ihnen nichts genutzt. Jetzt, da alles auseinander fällt, sollen ausgerechnet sie schuld sein, dass nichts mehr geht, dass es Neuwahlen gibt. Und Lafontaine nutzt sie für sein Comeback.

Was denken die übrig gebliebenen Linken in der SPD darüber? Sie sind orientierungslos im Vakuum zwischen Schröders Machtverlust und irgendeinem Neuanfang. Ratlosigkeit am Telefon, tastende Worte, ein Ringen um Befreiung.

Ja, sicher, unter Rot-Grün habe es eine Umverteilung von unten nach oben gegeben, sagt einer fast nebenbei. Eine niederschmetternde Bilanz für einen Linken. Aber im nächsten Atemzug beteuert derselbe Politiker, Gerhard Schröder bleibe der einzig richtige Kandidat. Und die Schwarzen würden die Umverteilung erst recht beschleunigen. Als erstes Gegenmittel fällt ihm ein: Die ungerechte Behandlung von älteren Arbeitnehmern bei Hartz IV sei zu korrigieren. Weist man darauf hin, das habe Lafontaine schon vor zwei Jahren gesagt, wird es still am anderen Ende der Leitung. Es sieht alles danach aus, als blieben die SPD-Linken auch in der Opposition eingeklemmt zwischen Schröders Nachfolgern und ihrem alten Übervater Oskar.

Ganz offen vertraulich

Identitätsprobleme? Das kann doch eine grüne Spitzenpolitikerin nicht erschüttern. Ihr so genanntes Hintergrundgespräch findet bei einem edlen Italiener statt. Auch die Wahl solcher Orte war bislang ein hoheitlicher Akt. Wird man sich in verschmauchten Spelunken treffen, wenn die Grünen in der Opposition sind?

„Hintergrund“ heißt meist „unter 3“, also: Nichts zitieren, bitte. Seitdem sich Rot-Grün auflöst, gilt auch „Unter 3“ irgendwie nicht mehr, weniges bleibt ungedruckt. Mit der Macht zerfallen die Gesprächsregeln. Ohnehin aber sind das Aufschlussreichste an Hintergründen oft die Fragen der Kollegen – und manchmal ein kleiner Moment. Sagen Sie, Frau grüne Spitzenpolitikerin, was passiert denn, wenn der Neuwahlplan platzt? Sie rümpft amüsiert die Nase und kichert. „Dann müssen wir eben weiterregieren.“ Eine plötzlich ganz surreale Vorstellung.

Ratlos und grün

Ohnmacht wird zu Coolness. Auch die Grünen wissen nicht, wie Schröder genau abtreten will und welche Rolle er ihnen zudenkt. Wenn der Kanzler, wie am Donnerstag, überraschend eine Pressekonferenz ankündigt, haben Spitzengrüne keine Ahnung, was er sagen wird. Sie tun so, als sei ihnen das egal. Als seien sie schon weiter. Als hätten sie kein Problem damit, dass ihre Regierungszeit zu Ende geht. Irgendwie. Irgendwann. In der Zwischenzeit versuchen sie die Zeit danach zu planen. Die Obergrünen in Berlin tun es im Stillen. Sie treffen sich zu geheimen Strategiebesprechungen, reißen sich trotz aller Provokationen durch die SPD zusammen, verwerfen Ministerrücktrittspläne und lassen nur nach außen dringen: Wir sind verantwortungsvoll, regierungsfähig, Schröder treu bis ganz zum Schluss. Wie es danach weitergehen soll? Dazu gibt es vorerst nur ein Wort: „Eigenständig“, was auch immer das bedeuten mag.

Vor dem Wahlparteitag Mitte Juli driftet die Partei, stiller als früher, aber doch wieder merklich auseinander. Die grünen Landespolitiker, die sich links fühlen, fordern einen „Kurswechsel“. Sie schreiben eifrig Papiere und Programmvorschläge voller linker Forderungen, auf deren Durchsetzung sie sieben Jahre lang vergeblich warten mussten. Nun hoffen sie, dass die Morgenluft, die sie zu wittern glauben, bis in die Hinterzimmer dringt, wo sich die Noch-Regierungsgrünen jetzt belauern.

Keiner weiß, ob es auf dem Parteitag zu echten Konflikten kommt. Die lang eingeübte Regierungsdisziplin spricht dagegen. Eigentlich ist der Richtungsstreit unvermeidlich. Viele Pragmatiker unterhalb der Führungsebene sind bereits eifrig dabei, einen ganz anderen Kurswechsel einzuläuten als jenen, den die Linken wünschen. Sie haben keine Schwierigkeiten, einerseits vor der „schwarzen Republik“ zu warnen und andererseits mit eben jenen Schwarzen anzubandeln.

Jerzy Montag, der trickreiche Obmann im Visa-Untersuchungsausschuss, ist nur ein Beispiel. Bei einer Veranstaltung zur Integrationspolitik in Berlin hält er eine ausgewogene Rede, deren Leitmotiv das „Fördern und Fordern“ ist. Die Mehrheitsgesellschaft müsse Angebote an Migranten machen, sagt er, aber wer nicht bereit sei, Deutsch zu lernen, müsse auch mit Sanktionen rechnen. Danach meldet sich Michael Wolffsohn, konservativer Historiker von der Bundeswehr-Uni in München, und sagt, er könne alles unterschreiben, was „der Jerzy“ gesagt habe. Damit könne er leben, sagt Montag augenzwinkernd. Später erklärt er fröhlich, sobald es rechnerisch mal möglich werde, sei auch Schwarz-Grün denkbar. Am Ende des Abends weiß man nicht recht, was sich in den sieben Jahren mehr verändert hat: die Konservativen oder die Grünen. Oder war das eigentlich nie ein echter Gegensatz?

Die, die es besser wissen

Wie gut, dass es die Berliner Alleswisser gibt. Wenn die Regierung schon selbst nicht mehr weiß, wohin sie morgen regiert – die Großkolumnisten und Parlamentsbürochefs sind ja auch noch da. Wenn im Kanzleramt sich alle längst gesetzt haben, weil die Pressekonferenz gleich los geht, bleiben sie noch links am Rand der Stuhlreihen stehen: Leuchttürme der Orientierung nicht zuletzt für den Kanzler, der sie so als Erstes sehen wird, wenn er um die Ecke biegt.

Die guten Kanzlerkenner werden bald sicherlich noch bessere Kanzlerinnenkenner sein. Sie sorgen allein schon dadurch für Kontinuität, dass sie sich laufend selbst zitieren: „… schrieb ich vor sieben Wochen an dieser Stelle, als ich zum ersten Mal von seinem Neuwahlkalkül erfuhr.“ Denn sie haben auch schon vorm Kanzler selbst gewusst, dass es Zeit für die Neuwahlen ist, die sie jetzt aber zu einem Desaster erklären.