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Archiv-Artikel

Das Montagsinterview„Ich wollte über den Balkon abhauen“

Demir Gökgöl kam nach Hamburg zum Geldverdienen. Jetzt rezitiert er Gedichte und spielt in Fatih-Akin-Filmen mitPARIS ODER HAMBURG Vor 50 Jahren brach der Künstler und Schauspieler Demir Gökgöl von Istanbul auf, um in Paris Theater zu machen. Hängengeblieben ist er in Hamburg, wo er begann, an verfolgte Dichter zu erinnern. In Fatih Akins neuem Film „Soul Kitchen“ spielt er einen griechischen Werftarbeiter

Demir Gökgöl

 Istanbul und Wien: Demir Gökgöl wurde 1937 in Istanbul geboren. Nach der Schulzeit studierte er zunächst zwei Jahre Soziologie in Istanbul und anschließend viereinhalb Jahre Theaterwissenschaften in Wien. Nachdem er in der Türkei seine Militärzeit absolviert hatte, arbeitete er bei TRT Radio Istanbul und unterschiedlichen Bühnen.

 Airbus und Tatort: 1968 kam Demir Gökgöl in die Bundesrepublik, wo er bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm und später, bis zu seiner Pensionierung 2002, bei Airbus beschäftigt war. Ab Mitte der 80er Jahre trat er in TV-Produktionen und Spielfilmen auf, unter anderem in „40 qm Deutschland“ und „Gegen die Wand“. Seine markante Stimme ist außerdem in zahlreichen Synchronisationen und Sprecherrollen zu hören.

 Chet Baker und Nâzim Hikmet: Zusammen mit dem damaligen Leiter der NDR-Bigband, Dieter Glawischnig, holte Gökgöl in dem kleinen Klub Circle Größen der internationalen Jazzszene wie Chet Baker auf die Bühne. Im Mittelpunkt seines Schaffens stehen allerdings die Auftritte mit Gedichtinterpretationen von Pablo Neruda bis Orhan Veli, oft mit Begleitung von Musikern. Er gilt als einer der besten Rezitatoren der Gedichte Nâzim Hikmets. Ein Porträt des Künstlers ist in dem 2003 erschienen Buch „gekommen und geblieben. Deutsch-türkische Lebensgeschichten“ von Michael Richter erschienen.  RLO

INTERVIEW RALF LORENZEN

taz: Herr Gökgöl, was zieht Sie immer wieder hier an die Mundsburger Brücke an der Alster, in das Lokal Anleger 1870?

Demir Gökgöl: Dieses kleine Stück Wasser erinnert mich an den Bosporus der 50er Jahre. Da gab es viele billige, wunderbare Kneipen. Da haben wir Raki getrunken und es war unbeschreiblich schön. Der zweite Grund ist die Flucht. Hier bleibe ich alleine, keiner kennt mich, außer den Kellnern und dem Besitzer, und ich kann ungestört meinen Gedanken nachgehen.

Ist Einsamkeit eine wichtige Erfahrung für Sie?

Sehr wichtig. Als ich verheiratet war, in meinen ersten 18 Hamburger Jahren, kannte ich niemanden und wollte niemanden kennenlernen. Im Grunde wollte ich immer nach Paris, aber dafür hat es hat nicht gereicht. Meine erste Literatur war französische Literatur und ich war verliebt in Juliette Gréco. Als ich in Istanbul Soziologie studierte, waren alle wichtigen Soziologen und Philosophen Franzosen.

Wieso sind Sie denn statt in Paris in Hamburg gelandet?

Du studierst vier Jahre in Wien Theaterwissenschaft, musst dann zum Militär zurück an deinen Geburtsort, von dem du wegen der Politiker die Schnauze voll hast. Du willst allein weggehen, aber dann ist ein Baby unterwegs. Allein kannst du machen was du willst, wenn du Vater bist, hast du eine Verantwortung, und das bedeutet: Geld verdienen. In Deutschland habe ich durch meinen Bruder 1968 einen Job bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm bekommen, als Dolmetscher und Mädchen für alles.

Da hatten Sie in Istanbul bereits Theaterstücke inszeniert und für das Radio gearbeitet.

Meine Eltern stammen aus Aserbaidschan, sie sind in die Türkei gekommen, weil ihre Eltern oder Verwandten von den Kommunisten nach der Revolution 1917 ermordet wurden. Sie waren alle Russenhasser. Und was wird dann aus einem rebellischen Jugendlichen wie mir? Er wird Salonkommunist. Obwohl ich ein Mathe-Genie war, habe ich mich immer nur für Literatur interessiert – sehr zum Leidwesen meines Vaters. Meine Großmutter mütterlicherseits war die erste Frauenrechtlerin auf der Krim. Sie hat die Frauen vom Kopftuch befreit und eine Zeitung herausgegeben. Sie hat mir immer die Kraft gegeben, dass ich in die literarische Richtung gehe. Literatur ist in dieser geldhungrigen oder religiös-fanatischen Welt eine Rettung.

Ab Mitte der 80er Jahren haben Sie dann auch deutliche Spuren in der Hamburger Kulturszene hinterlassen. Zuerst im Jazzclub „Circle“, den Sie zusammen mit Dieter Glawischnig, dem damaligen Dirigenten der NDR-Big-Band, geleitet haben …

… meine damalige Frau hat Weihnachten einmal zwei Menschen eingeladen. Erst wollte ich über den Balkon abhauen. Aber dann kam ein wunderbarer Mensch, der hat meine Schallplatten und meine Bücher gesehen und er sagte: Was? Du hörst diese Musik, du liest diese Bücher? Wir sind Freunde geworden und er hat mich in Hamburg rausgeholt. Dann habe ich irgendwo mal, als ich besoffen war, Gedichte aufgesagt. Ein toter Freund hat mir gesagt: du liest wunderbar Gedichte. Als ich sechzig Jahre alt war, wurde es mein Beruf, die toten, ermordeten, verfolgten Dichter bekannt zu machen.

Sie haben mal gesagt, dass Sie froh sind in Hamburg zu sein, weil Sie sich in der Türkei viel zu sehr aufgeregt hätten. Inwieweit betrachten Sie Ihre künstlerische Arbeit auch als politische?

Im Grunde bin ich ein Feigling, weil ich hier meine Ruhe habe. Aber die Dichter, die ich heute lese, sind alle politisch. Denken Sie an Pablo Neruda, denken Sie an Nâzim Hikmet, der 17 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat. Ich habe einmal in einem Interview für das türkische Fernsehen ein Gedicht von Orhan Veli vorgetragen. Einige Zeit später traf ich ein wunderhübsches türkisches Mädchen mit einem Kopftuch. Sie sagte: „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, würden Sie mir Ihre Gedichte verkaufen?“ Ich habe Ihr gesagt, dass die Gedicht nicht von mir waren. „Das ist egal“, sagte sie und ich habe ihr zwei CDs von mir geschickt. Aber nicht zu ihr nach Hause, sondern zu ihrer Freundin. „Wenn mein Vater das sieht, kann er mich umbringen“, sagte sie. Sie war Koranschülerin. Zwei Wochen später kam mit Fleurop eine rote Rose, ohne Namen. Ich habe geheult. Die Blume habe ich getrocknet, sie steht in meiner Wohnung.

In Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ haben Sie selbst den traditionalistischen Vater der weiblichen Hauptfigur gespielt. Welche Rolle spielen Sie in Akins neuem Film „Soul Kitchen“, der in dieser Woche in Venedig uraufgeführt wird?

Ich bin ein alter, versoffener Grieche und heiße Sokrates. Fatih ist ein wunderbarer, empfindsamer Regisseur. Bevor er dreht, übt er, und beim Drehen ändert er dann alles. In Soul Kitchen hatte ich eine Szene mit dem Hauptdarsteller, für die ich sogar Griechisch gelernt habe. Aber Fatih hat gesagt: du muss Deutsch sprechen. Da war ich sehr böse. Dann habe ich den fertigen Film gesehen und gemerkt, dass er die Szene ganz rausgeschnitten hat. Da war ich noch böser. Aber ich gebe ihm recht. Die Szene war wirklich sülzig und passt nicht in die Gesamtlinie. Jetzt kann ich das sagen. Aber ich sehe mich nicht als Schauspieler, sondern als Edelkomparsen …

dessen Gesicht und Stimme sich immerhin vielen Menschen eingeprägt hat, auch durch die Mitarbeit in Tatortproduktionen aus Hamburg.

Mit der Schauspielerei verdiene ich für meine Verhältnisse gut, aber es hat nichts mit Kunst zu tun. Ich bin in meinen Rollen ersetzbar. Ein guter Schauspieler ist unersetzbar. Ich hätte gern Rollen mit vielen Dialogen gehabt, da kann ein Schauspieler zeigen, was er kann.

Wenn in Deutschland über die Türkei und die Türken gesprochen wird, geht es meistens um Defizite und Integration. Stört Sie das?

Ich finde die Debatten über Multikultur und Ähnliches altmodisch, lächerlich und sehr, sehr kleinbürgerlich. Wenn ich mit Ihnen rede, denke ich nicht daran, dass Sie Deutscher sind. Wenn ich lebe, denke ich nicht daran, dass ich Türke oder Aserbaidschaner bin. Ich habe niemals gedacht: ich bin aus der Türkei geflohen. Ich bin aus einem Gefängnis für meinen Kopf geflüchtet.

Dennoch ist mir aufgefallen, dass Ihnen gerade junge Türken mit sehr viel Respekt und Ehrerbietung gegenübertreten.

Wenn sich junge Leute für meine Lesungen interessieren, macht mich das glücklich. Besonders, wenn die jungen Türken, die hier geboren sind oder früh ausgewandert sind, mich nach Lesungen oder auf Facebook fragen: Wer ist Orhan Kemal, wer ist ist Yashar Kemal?

Sie sind auf Facebook unterwegs?

Ja, aber ich bin sehr wählerisch in der Auswahl meiner Freunde dort.

Sie haben gesagt, dass Sie dieser Ort, an dem wir sitzen, an den Bosporus erinnert. Wie oft fahren Sie denn noch an den richtigen Bosporus?

Selten. Der Bosporus ist von den geldgierigen Restaurantbesitzern erobert worden, da geht nur noch die Crème de la Crème hin, oder die Touristen mit genug Euro in der Tasche. Ich habe gelesen, dass Roger Willemsen nicht mehr in bestimmten Teilen Hamburgs wohnen will, weil da nur noch großkotzige reiche Leute sind. Damit kann ich mich identifizieren.

Und wie ist das in Paris?

Da war ich noch nie.

Sie veralbern mich.

Ich war auch noch nie in Italien, obwohl ich mich dieser mediterranen Kultur so nahe fühle. Es ist zu spät, ich habe den Moment in den 18 Jahren hier, die ich allein gelebt habe, verpasst.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wäre das?

Mein größter Wunsch war immer, genug Geld zu haben, damit ich Frank Sinatra einladen kann und er nur für mich allein „All of me“ singt. Aber da er nicht mehr lebt, wünsche ich mir Folgendes: Als alter Mann in einem Film klugscheißerisch Weisheiten sagen, die von jedem angenommen werden.