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Archiv-Artikel

LSD-Trip in die Zukunft

Vom Umbau Amerikas in eine Gesellschaft des Jugendwahns: „Don’t Trust Anyone Over 30“ an der Berliner Staatsoper verbindet Musik, Marionettenspiel und Filmsequenzen zur Multimedia-Rockoper

Von MARCUS WOELLER

Trau keinem über dreißig! Einst ging diese Parole mit der Lebensmaxime „Live fast, die young“ einher. Irgendwann zu alt für seinen Lebensentwurf zu sein, ist allerdings ein Paradox, das schon vielen Gegenkulturen begegnet ist. Da bleiben oft nur Radikalisierung, Kommerzialisierung oder Kapitulation.

So war es auch mit der Hippie-Bewegung. 1968 war der Planet Flower Power noch in Ordnung, Woodstock Zukunftsmusik und Charles Mansons Helter-Skelter-Gemetzel noch nicht absehbar. In diesem Schlüsseljahr setzt auch die Geschichte an, die am Freitagabend im Magazin der Deutschen Staatsoper Berlin ihre Premiere hatte. Don’t Trust Anyone Over 30 heißt das kurze aber energische Stück Musiktheater.

Neil Sky, charismatischer Frontmann der erfolgreichen Rockband Sky Tribe, lebt mit seinem Freundeskreis im Hippiequartier Topanga Canyon nahe Los Angeles. Ein cleverer Kongressabgeordneter sieht in ihm den idealen Helfer für seinen Plan, das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabzusetzen. Sein populistischer Slogan vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs lautet: „Wer im Kampf fallen kann, der kann auch wählen.“ Gemeinsam mit seiner Freundin Sally-Anna, einer ehemaligen Miss Arizona, mobilisiert Neil Sky die Jugendlichen etwas stärker als geplant. Es kommt zu Demonstrationen und Straßenschlachten.

Sky gelingt es, das Wahlalter auf 14 herabzusetzen, den Senat mittels Drogen in einen anderen Bewusstseinszustand zu befördern, und schon wird er zum jüngsten Präsidenten der USA gewählt. Als erste Amtshandlung schickt der 24-Jährige die gesamte Bevölkerung über dreißig Jahre in Umerziehungslager. LSD werde es schon richten, denkt sich Sky und übersieht dabei, dass die nächste Generation schon an seinem Stuhl sägt. Am Ende wird er von seinem achtjährigen Adoptivsohn Dylan aus dem Amt geputscht.

Der amerikanische Konzeptkünstler und Rock-’n’-Roll-Historiker Dan Graham hat die melancholisch-schräge Rockoper geschrieben. Selbst inzwischen ein Rockopa von 63 Jahren, adaptiert er für „Don’t Trust Anyone Over 30“ einen Film aus dem Jahr 1968. Die Mainstream-Komödie „Wild In The Streets“ handelt vom Umbau Amerikas in eine hedonistische Gesellschaft des Jugendwahns. Noch heute sei Jugendlichkeit eines der zentralen amerikanischen Dogmen, betont Graham. Für sein Projekt einer multimedialen Inszenierung mit Marionetten, Videoprojektionen und Live-Musik hat er sich mit befreundeten Künstlern zusammengetan, die alle die Dreißig längst überschritten haben: Tony Oursler, Rodney Graham und der Puppenspieler Phillip Huber.

Tony Oursler ist durch seine theatralischen Installationen bekannt geworden, in denen er Videos von sprechenden Menschen auf gesichtslose Stoffpuppen projiziert; so erwachen die irritierenden Objekte zum Leben. Gemeinsam mit dem französischen Set-Designer Laurent P. Berger hat er eine minimalistische und charmante Bühnensituation konzipiert, die allen künstlerischen Komponenten gerecht wird. In die weiße Bühnenwand sind zwei Boxen integriert. Ein flacher Quader bildet den kleinen Guckkasten für das Puppentheater, ein kaum zwei mal zwei Meter großer Kubus nimmt die beiden Musiker der Brooklyner Neo-Punk-Band Japanther auf. Die gesamte Wand dient gleichzeitig als riesige Projektionsfläche, auf der Ourslers eingespielte Videos als Einblicke in die inneren Monologe der Marionetten fungieren. Aus dem Spiel mit den verschiedenen Größenverhältnissen gewinnt das Stück seine visuelle Kraft.

Die Aufführung beginnt mit dem Titelsong, geschrieben von dem kanadischen Künstler, Musiker und Filmemacher Rodney Graham. Die Hymne beschwört noch einmal den romantischen Geist der Sixties, bevor Matt Reilly und Ian Vanek aka Japanther ihren kleinen Bühnenkasten betreten. Während der 60 Minuten amüsanten Entertainments verschmelzen Musik, Marionettenspiel und psychedelische Filmsequenzen. Höhepunkt ist Neil Skys Regierungserklärung, die er zu Füßen des Gitarristen abgibt. Als nostalgischer Kompositcharakter aus Neil Young und dem Seeds-Sänger Sky „Sunlight“ Saxon muss er nun gegen den explosiven Punkrock anreden. Halb Träumer halb Politiker merkt er nicht, dass sein Abstieg schon längst begonnen hat. Über den eindringlichen Sound von Japanther, die dem Sechzigerjahre-Rock eine Ansage erklärt, gelingt es dem Stück, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen. Die absurd-ironische Story bliebe sonst wohl im Rausch sentimentaler Erinnerung an die Zeit stecken, als Hippies noch hip waren.