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„Ich spiele mit der Imagination“

Glaube nicht dem Künstler, glaube dem Werk! Der Popjournalist Greil Marcus widmet sich in seinem neuen Buch ganz dem Bob-Dylan-Song „Like a Rolling Stone“. Ein Gespräch über amerikanische Mythen und in Folksongs gespeicherte Erinnerung

INTERVIEW MAX DAX

taz: Herr Marcus, Ihre Bücher sind von einem Grundthema durchzogen: Sie suchen nach der anderen Geschichte Amerikas – jener, die von Sängern und Legenden festgehalten wurde und nicht in den Geschichtsbüchern zu finden ist.

Greil Marcus: John Hardy brachte einst einen Mann während eines Pokerspiels um. Hunderte und tausende von Männern haben vorher und seitdem andere Männer in Amerika umgebracht. Warum aber gibt es einen Song ausgerechnet über John Hardy? Warum wollen die Menschen die Geschichte ausgerechnet dieses Ereignisses immer und immer wieder hören? Ich kenne die Antwort nicht, aber die Frage stand im Raum. Sie wurde 1997 zur Antriebskraft für ein Buch namens „Invisible Republic“ (dt. „Basement Blues“).

Ich habe über das alte, unheimliche Amerika geschrieben, weil ich damals wie ein Besessener Bob Dylans „Basement Tapes“ gehört habe – und während ich diese 12, 13 CDs immer und immer wieder an mir vorbeiziehen ließ, wurde mir klar, dass seine Songs von Personen bevölkert waren, die miteinander zu reden schienen oder miteinander kämpften oder voreinander wegliefen oder gemeinsam feierten.

Vor allem aber schienen sie am gleichen Ort zu leben – eben der „unsichtbaren Republik“. Die „Basement Tapes“ riefen mir ein unsichtbares Amerika in Erinnerung, sie weckten in mir ein Interesse an der alten amerikanischen Musik – der Art von Musik, die Harry Smith auf seiner berühmten „Anthology of American Folk Music“ versammelt hat. Seltsamerweise bedurfte es der Stimme Bob Dylans, um diese Geschichten aufleben zu lassen. Ich hätte „Invisible Republic“ nie bloß über die großartigen alten Originale geschrieben. Komisch, nicht?

War es Ihnen wichtig, der offiziellen Geschichte Amerikas eine alternative, mythologische hinzuzufügen?

Die offizielle Geschichte Amerikas, wie wir sie in den Schulbüchern nachlesen können, ist eine Geschichte gebauter Städte, Brücken und Straßen, gewonnener und verlorener Wahlen und Schlachten. In der Tradition der amerikanischen Ballade ist die Geschichte Amerikas eine andere. Statt von den Präsidentschaftswahlen zu singen, sang man von den Attentaten auf die Präsidenten. Was zählte, waren die Brüche in der Kontinuität von Geschichte. Denn die Menschen damals liebten das Drama, und ihre Songs waren wie kleine Theaterstücke, doch blieben sie stets vage und mysteriös, sie erzählten nie die ganze Geschichte. Mit dem verblüffenden Effekt, dass sie einen – auch heute noch – umso mehr fesseln. Man möchte das Fehlende erforschen. Die Imagination wird beim Hören der Lieder gefordert.

Bob Dylan scheint ähnlich wie Sie von dem alten, unheimlichen Amerika gebannt zu sein: In seinen kürzlich erschienenen „Chronicles“ geht auch er auf Spurensuche in der Parallelwelt.

Meine Lieblingsstelle in seinem Buch ist die, in welcher er beschreibt, wie er während der Sechziger in die öffentlichen Leihbibliotheken zu gehen pflegte, um dort die Zeitungen aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs zu lesen, vor allem die Nachrichten über die kleinen Ereignisse.

Das war gewissermaßen der Versuch, sich in die Psyche der Vereinigten Staaten von Amerika hineinzuversetzen, lange bevor klar war, dass das Land eines Tages diesen Namen tragen würde. Letztlich geht es um die Kraft der Imagination. Und darum, Wissen anzusammeln, das man als Künstler in seine Arbeit einfließen lassen kann.

Dylan weiß so viel wie kaum ein anderer über die alte Musik Amerikas. Er verfügt über unfassbar viel Detailwissen, vor allem aber ist sein Wissen geerdet. Das war von Anfang an der Unterschied zwischen ihm und all den anderen Folksängern, zu denen er ja gehörte.

Nur aus diesem Grund konnte er kleine Verweise und Zitate aus alten Folkliedern in seine eigenen einflechten: Weil er sich die Sprache, mit der diese alten Balladen und Folksongs geschrieben worden waren, angeeignet hatte und selbst in dieser Sprache zu schreiben, zu sprechen und zu singen begann.

Jetzt haben Sie ein neues Buch über Bob Dylan geschrieben, und zwar ausschließlich über seinen bekanntesten Song „Like A Rolling Stone“. Zuvor hatten Sie bereits ein Buch über John Frankenheimers Film „The Manchurian Candidate“ verfasst. Schreiben Sie über Ihre Lieblingsthemen, um eines Tages auf einen Regalmeter Objekte Ihrer Begierde zu blicken?

Ja und Nein. „The Manchurian Candidate“ und mein Buch über „Like A Rolling Stone“ sind ganz anders als alle Bücher, die ich bis dahin geschrieben hatte. Denn die anderen, vor allem „Lipstick Traces … On A Cigarette“ und „Invisible Republic“, begannen immer mit einer Fragestellung – die sich im weiteren Verlauf zu einer regelrechten Obsession ausweitete. Ich hatte zu dem Zeitpunkt, wo ich mich mit der Frage auseinander setzte, keinen blassen Schimmer, in welche Richtung sich das jeweilige Buch entwickeln, welche Gliederung es haben und wie es sich zum Schluss lesen würde. Ich war, kurz gesagt, als die Bücher fertig geschrieben waren, genauso überrascht über meine Thesen wie der Leser.

Wenn man jedoch über ein so eng eingegrenztes Thema wie einen Song schreibt, selbst wenn man sich erlaubt, weit abschweifen zu dürfen, so macht man sich doch einer Struktur untertan, die bereits existiert. Man gibt eine gewisse Art von Freiheit auf. Beide Bücher, sowohl „The Manchurian Candidate“ wie auch „Like A Rolling Stone“, waren nicht aus einer Fragestellung erwachsen, mit der ich mich herumplagte. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich diese Bücher hätte schreiben müssen.

Warum haben Sie dann „Like A Rolling Stone“ geschrieben?

Ein amerikanischer Verleger rief mich an und erklärte mir, dass er gern ein von mir geschriebenes Buch über den Song lesen würde.

Also war es eine Auftragsarbeit?

Ich sagte ihm noch im gleichen Telefonat, dass ich seine Idee für keine gute Idee hielte. Warum? Weil dieser Song keine spezifische Geschichte hat, die ihm einen Resonanzkörper gibt. „Like A Rolling Stone“ ist kein Song wie „Stagger Lee“, über den Cecil Brown ein ganzes Buch geschrieben hat. Dieser Song wird seit mehr als einem Jahrhundert gesungen, und es gibt hunderte von Versionen von ihm. Die Geschichte, die in dem Song erzählt wird, ist nicht nur sehr, sehr kompliziert, sie fand wirklich statt, man kann sie als Autor rekonstruieren. Das Buch über „Stag-A-Lee“ habe ich sofort nachvollziehen können, ebenso David Margolicks Buch über den von Billie Holiday gesungenen Song „Strange Fruit“.

„Like A Rolling Stone“ hingegen ist ein Song, den hat sich jemand vor 40 Jahren einfach ausgedacht. Er ging mit ein paar Musikern in ein Aufnahmestudio, nahm ihn auf und veröffentlichte ihn, so dass der Song im Radio gespielt wurde. Das ist letztlich die Kurzfassung der Geschichte. Man kann sie erweitern, anreichern und verlängern – aber man wird keine andere Geschichte erzählen können. Deshalb sagte ich ab.

Sie haben das Buch dann aber dennoch geschrieben.

Ehrlich gesagt: Der Song ist einer der größten Songs, die je geschrieben worden sind. Er veränderte die Landkarte der Popmusik mit einem Handstreich. Ich konnte nach dem Telefonat an gar nichts mehr anderes denken. Ich begann mir Notizen zu machen, hatte schließlich gar ein Art Vorwort verfasst. Also griff ich zum Telefon, rief den Verleger an und teilte ihm mit, dass ich meine Meinung geändert hatte.

Sie bedienen sich ganz offen einer Cut-up-Methode, um möglichst viel Hintergrundinformationen unterzubringen.

Ich lasse Leute, die an dem Song mitgearbeitet haben, zu Wort kommen, ich beschreibe Amerika, wie es in den Sechzigern war, ich schreibe über Dylan und seinen Spielfilm „Masked And Anonymous“, in welchem der Song vorkommt, und ich analysiere verschiedene Coverversionen des Songs. Ich gehe gewissermaßen lange Umwege. Erst ganz zum Schluss, wenn der Leser wirklich wissen will, was es mit dem Song auf sich hat, erzähle ich die Geschichte, wie er schließlich aufgenommen wurde. Auf diese Weise konnte ich die Spannung halten.

Um den Preis, dass Sie zu spekulieren angefangen haben. Ist ihr Buch möglicherweise ein paar Seiten zu lang geraten?

Können Sie eine Passage nennen, wo ich spekuliert habe?

Es gibt viele, aber am deutlichsten wird es, als Sie über Dylans legendären Auftritt 1966 in Manchester schreiben. Ein Besucher ruft aus dem Publikum heraus „Judas!“, woraufhin der Sänger mit einem „You’re a liar!“ antwortet, bevor er und die Band eine bemerkenswerte Version von „Like A Rolling Stone“ spielen. Sie erlauben sich an dieser – und an anderen Stellen – höchst spekulative Interpretationen von Dylans Gedanken.

Klar, ich war ja damals nicht dabei. Aber ich bin ein guter Zuhörer. Durch das Zuhören höre ich Situationen. Ich höre, wie man sich auch anders hätte verhalten können in dieser bestimmten Situation. Und von daher gebe ich Ihnen Recht: Ja, ich spekuliere. Ja, ich spiele mit der Imagination.

Für mich ist das jedoch nahe liegend. Der Mann, der „Judas!“ gerufen hatte, hat sich 1997 geoutet. Sein Name war Keith Butler. Er hat daraufhin eine ganze Reihe von Interviews gegeben, in denen er erläuterte, warum er das damals getan hat und wie er sich dabei und danach gefühlt hat. Ich habe mir die Tonbandaufnahmen dieser Interviews angehört – und ich glaubte ihm nicht. Ich kaufte ihm kein Wort ab. Seine Bekenntnisse waren Lügen. Er sagt etwa, dass er sich bereits unmittelbar danach sehr für seinen Zwischenruf geschämt habe. Das sei auch der Grund gewesen, weshalb er das Konzert noch während der Pause zwischen den Songs verlassen habe, noch bevor Dylan „Like A Rolling Stone“ beginnt. Er lässt allerdings aus, dass er beim Hinausgehen in David Pennebakers Filmcrew läuft und diesen gegenüber sagt: „Er ist ein Verräter. Jemand sollte ihn umbringen.“

Haben Sie Bob Dylan persönlich gesprochen, als Sie an „Like A Rolling Stone“ arbeiteten?

Ich habe beim Management angefragt. Die haben mir dann von Dylan ausgerichtet, dass ich besser über seine Songs schreiben würde als er selbst darüber zu reden imstande sei. Das habe ich als eine sehr schmeichelhafte Absage empfunden. Im Übrigen hat D. H. Lawrence einmal sehr klug gesagt: „Glaube nie dem Künstler. Glaube dem Werk.“ Es ist mir egal, was ein Künstler beabsichtigt. Was zählt, ist das Werk.

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