Laut, feucht, höllisch

Die Hellacopters, mein Schwager und ich. Die sachliche Konzertkritik nebst Randbemerkungen zum Publikum

Nach den ersten Songs rissen sich die jungen Wahnsinnigen vor der Bühne die Taschen ihrer Jeans ab

Ein ziemlich schwergewichtiger Übernachtkurier ächzte sich für alle Mietparteien gut hörbar in den dritten Stock hoch, zu mir, und machte ein Gesicht wie „Du wärst mir besser entgegengekommen, jetzt hat dein Kind keinen Vater mehr!“. Er hielt mir wortlos-bedrohlich sein Klemmbrett hin, machte ein Kreuz dort, wo meine Unterschrift stehen sollte, und schwitzte unsinnig.

Als ich die Tür wieder verriegelt hatte, packte mich eine absurde Euphorie in den Kaldaunen, dass es fast nicht mehr schön war. Er hatte mich am Leben gelassen, ja, das auch, aber vor allem hatte man mir zwei Freikarten für den handverlesenen, schon seit Monaten ausverkauften Hellacopters-Gig im kleinen Hamburger Kiez-Club „Molotov“ nebst einem noch geburtsfeuchten Exemplar von „Rock & Roll Is Dead“ ins Haus geschickt. Es war einer dieser Momente … – in denen man zwar immer noch nicht an Gott, aber doch wenigstens an die Güte im Menschen glauben will.

Viel Zeit zum Nachdenken blieb allerdings nicht. „In zwei Stunden ist Abfahrt“, winselte mir mein Freund und Schwager, der „plus eins“ meiner Akkreditierungsaktion, mit freudigem Tremolo in den Hörer, als ich ihm Bericht erstattete von der günstigen Entwicklung unseres Schicksals. Auch er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. „Hoffentlich ist meine Kutte bis dahin trocken, besser ich föhn die gleich, tschüss!“

Zwei Stunden später waren wir auf der Autobahn – und ich konnte bereits die Refrains von „Monkeyboy“, „Bring It On Home“, „Murder On My Mind“ und wahrlich nicht zuletzt „I’m In The Band“ auswendig. Wir kachelten mit 220 Sachen durch den Elbtunnel, blinkten alles vor uns weg, und drohten mit Klappspaten, wenn einer sich weigerte, Platz zu machen. Nach 45 Minuten Fahrt konnte auch mein Schwager die Refrains. Wir waren verdammt noch mal bereit für die Hellacopters.

Die Bühne sah sehr aufgeräumt aus. Nur das Nötigste. Ein alter Fender-Twin Reverb für Nick Royale, dem Sänger und Gitarristen, ein Orange-Top mit 4x12er Box für den Leadgitarristen Robert Dahlqvist, ein Kinder-Drum-Kit, drei Mikroständer, irgendein Röhrenradio für den Bassisten stand da auch noch herum, und hinter dem rechten PA-Türmchen verschwand die Schweineorgel von Bobby Lee Fett. Er heißt wirklich so. Schon jetzt schienen die Wände dickes Schweineblut auszuschwitzen. Es war so heiß wie in der Hölle – aber wenn so die Hölle ist, möchte ich da später mal hin. Und dann stiegen diese jungen Schweden einfach so rauf auf die Bühne, hatten vermutlich die ganze Zeit in der ersten Reihe gestanden, stöpselten Geräte ein, sagten „Hello“ oder „Good evening, Hämbürg!“ und gossen nur noch ihre brühwarme tabascöse Tunke über diese dreihundert im „Molotov“ eingelegten Heringe – machten sie so richtig nass.

Nach den ersten Songs rissen sich junge Wahnsinnige die Taschen ihrer Jeans ab, Atheisten überwanden die Schwerkraft, gewaltige Luftgitarren wuchsen wie Knollenblätterpilze aus dem fruchtbaren Boden, den diese Gärtner und Mörder mit der Sachlichkeit von Juristen und gleichzeitigen Überspanntheit von mexikanischen Banditen im Italo-Western bestellten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein weiblicher Kegelclub meinem Schwager mit vollem Einsatz die Jacke vom Körper pellte und in den allgemeinen Verwertungskreislauf einspeiste. „Himmel“, dachte ich, „das hier ist Rock ’n’ Roll – da gibt’s gar kein Vertun.“

Nach einer langen, haltlosen, hochfahrenden und absolut sachgemäßen Version von MC5s „Kick Out The Jams, Motherfuckers“ ging die Band zwei Stunden später von der Bühne und stellte sich wieder in die erste Reihe, um noch ein Bier zu trinken und über die amerikanische Rockmusik der Sechziger- und Siebzigerjahre zu plaudern. Dabei sollte man sie besser nicht stören.

Wir schlossen uns also dem Strom der Fertigen an, wankten die Treppe hinauf ein paar jungen Frauen hinterher, die wie verzaubert von dem gerade Gehörten in die warme Nachtluft entschwebten. Mein Schwager schüttelte verzweifelt den Kopf, greinte ihnen nach: „Ihr wollt alle nur mein Bestes …!“ – „Dein Geld“, ergänzte ich den alten Otto-Witz, aber er war wie von Sinnen und brüllte mich nieder: „… MEINEN DICKEN PIMMEL – und mein Geld! Aber, sach ma, habe ich meine Jacke eigentlich im Auto gelassen?“

Es war jetzt wirklich Zeit zu fahren. Wenn wir es zurück in einer guten Stunde packen sollten, dann wäre das immer noch okay. Nicht berauschend, aber okay.

FRANK SCHÄFER