: „Die EU ist zu feige, ihre Grenzen zu definieren“
Die EU ist als politische Union auf dem Weg in eine fundamentale Krise. Der Zweite Weltkrieg verblasst als Sinnreserve – und den Europapolitikern fehlt der Mut, Europas Außengrenze zu bestimmen. Deshalb wächst die EU-Skepsis
taz: Herr Wehler, laut einer Umfrage haben mehr als achtzig Prozent der Deutschen das Gefühl, von Brüssel bevormundet zu werden. Warum?
Hans-Ulrich Wehler: Fast zwei Drittel der Gesetze, die der Bundestag verabschiedet, werden aus Brüssel übernommen. Das ist der Hintergrund für das um sich greifende Gefühl, dass wir von einer nicht demokratisch gewählten Kommission und der Brüsseler Bürokratie an der kurzen Leine geführt werden. Diese Haltung ist ein europäisches Phänomen. Blair hätte das Verfassungsreferendum ja wohl auch verloren, so wie in Frankreich und den Niederlanden.
Nun ist das Nein zur Verfassung aber paradox. Die Verfassung ist ja der Versuch, von oben mehr Demokratie in der EU herzustellen – und ausgerechnet der wird demokratisch zurückgewiesen …
Ja, es war der Versuch, das halbautoritäre EU-System, das der Bürokratie viel und dem Parlament wenig Spielräume gibt, normativ festzulegen. Allerdings war diese Verfassung ein 200 Seiten umfassender, komplizierter Vertrag. Es wäre vielleicht besser gewesen, sich an einer knappen Verfassung wie der amerikanischen zu orientieren.
Welche Gründe hat die wachsende EU-Skepsis noch?
Es ist der Politik nirgends gelungen ist, den Beitritt der 10 östlichen Staaten 2004 den Wählern zu erklären. Das hätte Geduld erfordert. Man hätte sich ein Beispiel an Franklin Roosevelt nehmen können, der zu Beginn des New Deal damals im Radio alle 14 Tage den Amerikanern erklärt hat, warum man nun etwas Neues braucht. Diese Kamingespräche waren damals höchst wirksam – nicht einen Hauch davon hat die europäische Politik zu Wege gebracht. Der Beitritt der 10 ist zweifellos eine Belastung für die alten Unionsstaaten – aber anstatt darzustellen, warum dieser Beitritt nötig ist, welche Vorzüge er auch mit sich bringt, was uns mit diesen Ländern auch historisch verbindet, hat man so getan, als wäre das eben einfach so. Das hat sich nun gerächt.
Also ist die EU-Skepsis das Echo eines Vermittlungsproblems?
Auch. Wir haben es derzeit mit der schwächsten Generation von Europapolitikern der letzten 50 Jahre zu tun. Niemand, der vergleichbar wäre mit Figuren wie Delors, Giscard oder Schmidt. Verheugen und Fischer reden ja von der EU sogar als Weltmacht, die von Lappland bis Kurdistan reicht. Ich halte das für einen Ausdruck wilhelminischer Großmannssucht – parallel zu dem Drängen auf einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat.
Welche Rolle haben die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bei dem Nein gespielt?
Sie haben die Ängste noch gesteigert. Es gibt derzeit 450 Millionen EU-Bürger. Demnächst kommen noch Bulgaren und Rumänen hinzu, vermutlich später auch die Kroaten. Dann gibt es eine halbe Milliarde EU-Bürger. Es ist eine gewaltige Aufgabe, die ost- und südosteuropäischen Länder zu integrieren und die hohen Erwartungen dort an die EU nicht zu enttäuschen. Denn die Gießkanne der Europäischen Union ist nicht mehr so voll wie zu den Zeiten, als Spanien, Griechenland und Portugal beitraten. Die Idee, dass dann 2020 hochgerechnet etwa 90 Millionen muslimische Türken hinzukommen, ist abenteuerlich.
Warum? Was ist der zentrale Einwand gegen den EU-Beitritt der Türkei?
Die EU als politische Union wäre damit wegen Handlungsunfähigkeit begraben. Die Türkei wäre der größte EU-Staat, die Kosten von jährlich 40 Milliarden Euro, von denen die Kommission redet, dürften noch höher liegen.
Die Schlüsselfrage lautet also: Wo liegen die Grenzen der EU?
Das ist die zentrale, völlig offene Frage. Auch die Ukraine strebt ja einen EU-Beitritt an. Was ist mit Weißrussland nach Lukaschenko, was mit Georgien? An dieser Erweiterungsgigantomanie wird die politische Vertiefung der EU sterben. Das Grunddilemma ist, dass die EU zu feige ist, ihre Grenzen zu bestimmen. Kluge Außenpolitiker wie Bismarck oder Stresemann hätten genau dies getan – und sich dann Optionen und flexible Möglichkeiten verschafft, welche politischen und rechtlichen Verhältnisse man den Nachbarn, den Nicht-EU-Staaten, anbietet. Damit die dürre Alternative – Vollmitglied oder stigmatisierter Außenseiter – verschwindet.
Es gibt doch die „privilegierte Partnerschaft“, die Merkel der Türkei anbieten will …
Ja, aber das reicht an Möglichkeiten nicht. Es gibt auch die Assoziationsverträge mit den Maghrebstaaten, die ein Erbe der französischen Kolonialzeit sind und die man nicht auf andere Regionen übertragen kann.
Was ist denn das Ziel der EU? Ist es noch der Staatenbund? Oder nur, wie die Briten wollen, eine Freihandelszone?
Viel wird davon abhängen, ob Sarkozy, Merkel und Schüssel die Verhandlungen mit der Türkei so erschweren, dass der Beitritt in weite Ferne rückt. Misslingt dies, schreitet die Erweiterung der EU fort, dann wird die Debatte um Kerneuropa in den EU-Gründungsstaaten wiederkehren. Denn die politische Handlungsfähigkeit wird dann nur ein entwickeltes Zentrum gewährleisten können. Das Problem dabei ist, dass die polnischen und ungarischen Europapolitiker schon bekundet haben, zum Kern und nicht zur Peripherie gehören zu wollen. Das wird, falls es kommt, eine barbarisch schwierige Aufgabe – nämlich eine nach Süden und Osten sich weiter ausdehnende EU, die sich gleichzeitig in eine Kernregion und eine Peripherie zerlegt.
Liegt die Krise der EU nicht noch tiefer? Eine Sinnressource war ja für die EU stets die Vergangenheit, die beiden Weltkriege, die sich nie wiederholen sollten. Das ist als Motiv stark ausgebleicht.
Ja, ich gehöre zu einer politischen Generation, für die die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges ein Legitimationsspender für das Großprojekt EU war. Offenbar spielt das für die Generation der 20- bis 40-Jährigen heute keine große Rolle mehr. Auch die positive emotionale Besetzung der Begriffs Europa scheint zu verschwinden.
Was folgt auf das postnationale Bewusstsein, das die Bundesrepublik so lange prägte?
Nach 1945 war der radikale deutsche Nationalismus vollkommen diskreditiert. Mit dem Nationalen ging man danach zweckrational um. Nun braucht gemeinschaftliches Zusammenleben aber einen Loyalitätspol – sei es die antike Polis, die Reichsstadt im Mittelalter oder die römische Republik. Für die Westdeutschen war Europa eine Art Ersatzloyalität. Daher war die Sympathie für Europa in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren hier ungleich größer als in England oder Italien.
Und nun steht eine Renationalisierung an?
Nicht als dramatischer Schwenk. Die Hoffnungen und Befürchtungen, die es 1990 nach der beiden Fusion der beiden Teilstaaten gab – denken Sie an Hans Peter Schwarz’ und Arnulf Barings Idee von Deutschland als Zentralmacht –, haben sich nicht bestätigt. Die Wähler haben, ganz im Sinne der alten Bundesrepublik, beim Kriegseinsatz in Bosnien sehr gezögert. Kriegseuphorie gab es nirgends. Versuche, wie von Schäuble 1994, auf die nationale Karte zu setzen, wurden nicht honoriert. Allerdings ist vorstellbar, dass das Nationale wieder eine größere Rolle spielen wird – auch wenn mir das nicht gefällt. INTERVIEW: STEFAN REINECKE