Rot-grüner Verfassungsbruch gerügt

Karlsruhe entscheidet einstimmig, dass der vorzeitige Abbruch des Visa-Ausschusses rechtswidrig war. SPD und Grüne können das Urteil „nicht verstehen“, wollen es aber akzeptieren und den Auftritt von Innenminister Schily über sich ergehen lassen

VON CHRISTIAN RATH
UND LUKAS WALLRAFF

Jetzt wird Otto Schily doch noch verhört. Das Bundesverfassungsgericht entschied gestern in Karlsruhe, dass der Visa-Untersuchungsausschuss des Bundestags nicht abgebrochen werden darf. Eine mehr als peinliche Schlappe für die rot-grünen Ausschussmitglieder, die ihre Arbeit mit Hinweis auf die Neuwahlen und den zu schreibenden Abschlussbericht beenden wollten.

SPD-Ausschuss-Obmann Olaf Scholz reagierte auf die Entscheidung aus Karlsruhe mit der Formulierung: „Vor Gericht und auf hoher See ist man mit Gott alleine.“ Ganz allein war er aber nicht. Sein grüner Kollege Jerzy Montag stand ihm zur Seite. Unisono bekundeten beide Politiker, sie könnten die Entscheidung zwar „nicht verstehen“, zumal noch keine Urteilsbegründung vorliege, sie würden den Karlsruher Beschluss aber befolgen. Noch tags zuvor hatten die beiden studierten Juristen Scholz und Montag großspurig erklärt, der Eilantrag der Union gegen den Ausschussabbruch sei „äußerst dürftig“ ausgefallen. Scholz ließ sich von dieser Einschätzung auch nach dem gestrigen – einstimmigen – Beschluss der obersten Richter nicht abbringen: „Ich halte die Antragsbegründung nach wie vor für verquast zusammengeschrieben und fragwürdig.“ Nun muss er wieder in den Ausschuss.

Der so genannte Visa-Ausschuss soll seit Dezember 2004 aufklären, ob bei der Erteilung von Einreisegenehmigungen, vor allem in der Ukraine, Fehler gemacht wurden und welche Verantwortung Außenminister Joschka Fischer dafür trägt.

Als Kanzler Schröder am 22. Mai Neuwahlen ankündigte, nutzte die rot-grüne Mehrheit dies sofort, um die Arbeit des ungeliebten Ausschusses „auszusetzen“. Sie berief sich auf eine Vorschrift im Gesetz über Untersuchungsausschüsse, in der es heißt: „Ist abzusehen, dass der Ausschuss seine Arbeit nicht vor Ende der Wahlperiode erledigen kann, hat er dem Bundestag rechtzeitig einen Sachstandsbericht vorzulegen.“ Nur der sofortige Abbruch der Ausschussarbeit stelle sicher, so SPD und Grüne, dass dieser Bericht noch rechtzeitig vor der Wahl fertig gestellt und im Bundestag diskutiert werden könne.

Die Opposition hielt diese Begründung jedoch für vorgeschoben. Ziel von Rot-Grün sei es gewesen, „die Vernehmung von Bundesinnenminister Otto Schily zu vermeiden“, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Norbert Röttgen. Schilys Auftritt war nach dem ursprünglichen Terminplan für den 8. Juli geplant. Der Innenminister hatte, wie längst bekannt wurde, mehrfach Meinungsverschiedenheiten mit Fischer über die Visapolitik. Die Union will ihn deshalb, neben anderen Zeugen, noch befragen.

Die Karlsruher Richter folgten bei ihrer Entscheidung offenbar dem Argument, dass vorgezogene Neuwahlen noch gar nicht sicher sind. Das Gericht teilte in seiner einstweiligen Anordnung mit, der Ausschuss sei verpflichtet, die Zeugeneinvernahme „unverzüglich fortzuführen“, und zwar bis zu einer Anordnung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen. Diese kann Horst Köhler frühestens am 1. Juli nach einer verlorenen Vertrauensfrage des Kanzlers erteilen. Erwartet wird dies aber erst einige Wochen danach.

„Rot-Grün hat eine schwere Niederlage erlitten“, freute sich CDU-Obmann Eckart von Klaeden. Das Ansinnen der Koalition, die Beweisaufnahme zu beenden, sei verfassungswidrig. „Der Rechts- und Verfassungsbruch zieht sich wie ein rot-grüner Faden durch die gesamte Visa-Affäre.“ Der Ausschuss werde heute beraten, wie es weitergeht.

SPD und Grüne haben sich offenbar damit abgefunden, dass der Innenminister auftreten muss. „Ich denke, dass es dazu kommen wird, dass Herr Schily gehört wird“, sagte Scholz gestern. Schily selbst erklärte sich ausdrücklich bereit: „Ich kann sicher einiges zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen.“

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