Ein Mann wird behindert

Er will früh zur Arbeit gehen und abends in die Kneipe. Er will dabei sein: „Der Fischbach, der ich vor der Behinderung war, ist der gleiche wie jetzt“

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Als Student spielte Claus Fischbach leidenschaftlich gern Tennis. Beim Berliner Club „Blau-Weiß“ rannte er sich die Seele aus dem Leib. Einmal sprach ihn auf dem Weg zur Kabine eine junge hübsche Frau an. Sie stellte sich als Medizinstudentin vor und sagte, dass sie ihm zugeschaut habe. Fischbach fühlte sich geschmeichelt. Aber die Frau sagte: „Du kannst enorm schnell lossprinten. Aber wenn du vor dem Ball stoppst, dann stakst du wie ein Storch. Da stimmt etwas nicht. Lass das mal nachsehen.“

Er verstand nicht, was die Frau meinte. Trotzdem suchte er einen Neurologen auf. Nach langwierigen Untersuchungen erfuhr er, dass er an progressiver Muskeldystrophie leidet, einer Erkrankung, die zum Schwund des Muskelgewebes führt und eines Tages möglicherweise zum Versagen der Atemmuskulatur. Zwei Jahre später hatte der begeisterte Tennisspieler Probleme beim Gehen, dann brauchte er Gehstützen, später einen Faltrollstuhl. Mittlerweile sind seine Muskeln so schwach, dass er einen Elektrorollstuhl fährt.

Claus Fischbach ist 61 Jahre alt, er braucht Hilfe beim Aufstehen, beim Duschen, beim Anziehen, beim Auf-die-Toilette-Gehen, beim Zubettgehen. Die Liste der Dinge, die er alleine nicht mehr machen kann, könnte er problemlos fortsetzen. Aber Claus Fischbach zieht es vor, die Dinge aufzuzählen, die er machen kann. Zum Beispiel im „Knipperle“ sitzen, einer Weinstube in Berlin-Schöneberg, wenige Straßen von seiner Wohnung entfernt. Er fährt über eine Rampe an den Tisch gleich neben dem Eingang, dem Einzigen, der hoch genug ist, dass der Rollstuhl drunter passt.

Den Zugang zur Weinstube hat Fischbach organisiert. Er hat eine Rampe besorgt, die jeder Kellner, jede Kellnerin mit wenigen Handgriffen installieren kann. Hätte er darauf gewartet, dass andere tätig werden, er würde noch heute an den wenigen Treppenstufen scheitern. Wie bei so vielen Lokalen, Geschäften, Friseurgeschäften oder Praxen, in die er nicht reinkommt.

Natürlich hat Fischbach auch verfolgt, wie jahrelang in Deutschland um ein Antidiskriminierungsgesetz gestritten wurde. Vor fünf Jahren wurde die europäische Richtlinie „zur Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse, der ethnischen Herkunft oder des Geschlechts“ beschlossen, die die EU-Staaten in nationales Recht umsetzen müssen. Weil Deutschland die Richtlinie noch immer nicht umgesetzt hat, droht im Falle eines weiteren Verzuges ein millionenschweres Zwangsgeld. Der Streitpunkt: Rot-Grün will über die EU-Richtlinie hinausgehen und auch Alte, Behinderte, Schwule und Lesben, Juden und Muslime per Gesetz vor Diskriminierung schützen. Diskriminierung durch Versicherungen und Reiseunternehmen, die ihnen Verträge verwehren, durch Gaststätten, Hotels und Wohnungsgesellschaften, die sie nicht akzeptieren. Die Opposition will aber nur, wie auch Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände, eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie.

Morgen will die Regierungskoalition das Gesetz im Bundestag verabschieden. Obwohl klar ist, dass es die Opposition durch ihre Mehrheit im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag blockieren wird. Angela Merkel hat nach ihrer Ernennung zur Kanzlerkandidatin der Union erklärt, dieses „absurde Gesetz“ zu kippen.

Claus Fischbach regt das nicht besonders auf. Denn auch vom rot-grünen Gesetzentwurf, der über die EU-Vorgabe hinausgeht, ist er nicht begeistert. „Die Regelungen und Ausnahmeregelungen sind derart detailliert und kompliziert, dass sie mehr Schlupflöcher als Vorteile bieten.“ In der Praxis werde sich der Klageweg als zu umständlich und langwierig erweisen. Fischbach findet es zwar gut, bei Ungleichbehandlungen durch Versicherungen, Vermieter oder Ferienanbieter rechtliche Voraussetzungen zu schaffen. Aber was, fragt er, nützt es, wenn man Jahre nach dem geplatzten Urlaub Recht bekommt?

Er weiß, wovon er redet. Nicht nur, weil er selber im Rollstuhl sitzt. Sondern auch, weil er Jurist ist. Im Vergleich zu vielen der 6,6 Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland hat er einen gut bezahlten Job. Als Regierungsdirektor in der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft vertritt er das Land Berlin bei Rechtsstreitigkeiten.

„Die Behinderung ist nur ein Teil von mir“, sagt er. „Der Claus Fischbach, der ich vor der Behinderung war, ist der gleiche wie jetzt.“ Fischbach geht es auf die Nerven, wenn er den Ausdruck „an den Rollstuhl gefesselt“ hört. „Der Rollstuhl ist ein hervorragendes technisches Hilfsmittel.“ Er hat die Grenzen, die ihm die Muskelerkrankung setzt, akzeptiert. Es sind die Grenzen durch bauliche oder technische Hindernisse, die ihn behindern.

Fischbach hat jahrelang dagegen gekämpft. Als Mitglied der Berliner Grünen, als Vorsitzenden von Beiräten, als Verfasser von Petitionen. Er verbucht es natürlich als Erfolg, wenn auf sein Betreiben hin rollstuhlgerechte Zugänge geschaffen, Rampen bereitgestellt, der Martin-Gropius-Bau oder das Bundesratsgebäude rollstuhlfreundlicher werden. „Aber es ist ermüdend, immer gegen Wände zu rennen und Druck zu machen.“ Mehrmals spricht er von „Scheinheiligkeit“. Fischbach kann sie nicht mehr hören, die Abgeordneten, die Bürgermeister, die Beamten, die Architekten, die versprechen, sich für Behinderte einzusetzen, aber, je näher eine Entscheidung rückt, dann doch wieder zu Bedenkenträgern werden. Die auf Geldknappheit verweisen, auch wenn weniger Treppenstufen bei einem Neubau keine Mehrkosten verursachen, auf fehlende Rechtsgrundlagen, auf mangelnde Akzeptanz in der Wirtschaft. Oder auf Sicherheitsbelange der Behinderten.

Er will nicht, dass wegen ihm das Berliner Ensemble umgebaut wird. Genauso gut könnte er verlangen, dass die Alpen platt gemacht werden. Was er will, bringt er mit vier Worten auf den Punkt. „Ich will dabei sein.“ Er will sich nach einem gescheiterten Ausflug nicht mehr sagen müssen „Wärst du doch zu Hause geblieben“. Fischbachs Forderung ist ganz klar: „Die Regierung soll sagen, basta, alle Neubauten sollen barrierefrei sein. Wenn man wirklich Integration will, soll man dafür Sorge tragen. Sonst dient das Antidiskriminierungsgesetz allenfalls dem schönen Schein.“

Wenn Karl Hermann Haack, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, so etwas hört, wird er laut. „Die Barrierefreiheit für öffentlich zugängliche Gebäude steht in der jeweiligen Bauordnung aller 16 Länder“, ruft der 65 Jahre alte Sozialdemokrat. „Als Bundesgesetzgeber kann man da nichts machen, das weiß auch ein Jurist.“ Haack verweist lieber auf „den Paradigmenwechsel“, der in der Behindertenpolitik vollzogen wurde, oder auf „die Minimierung von Widerständen“ bei der Bahn. Haack teilt aber auch in Richtung der Bundesregierung aus. „Mich entsetzen die machtkonservativen Ministerialbürokraten, wozu auch Sozialdemokraten gehören, das können Sie ruhig schreiben, die das Gesetz sabotiert haben.“ Doch am meisten nervt es ihn, wenn die bisherige Arbeit nicht anerkannt wird. „Mit der Haltung, das wird eh abgelehnt und ist alles furchtbar, läuft sich das tot.“ An die unionsgeführten Landesregierungen gerichtet, sagt er: „Sie sollen das Gesetzgebungsverfahren im Bundesrat nicht durch Geschäftsordnungstricks verzögern.“

Das Antidiskriminierungsgesetz? Fischbach winkt ab. Er erzählt die Geschichte mit der Toilette in der Senatsverwaltung, seiner Arbeitsstelle: Weil ihm mittlerweile die Kraft fehlt, allein vom Rollstuhl auf die für ihn eingerichtete Behindertentoilette zu kommen, hat er einen „Lifter“ beantragt. Nach dem Sozialgesetzbuch hat er Anspruch auf eine behindertengerechte Gestaltung seines Arbeitsplatzes. Trotzdem wird ihm der „Lifter“ ohne Angaben von Gründen verweigert. Die zuständige Abteilung reagierte nicht mit einer Prüfung seines Antrages, sondern ordnete eine amtsärztliche Untersuchung an. „Mit dem Ziel, meine Dienstunfähigkeit festzustellen“, wie Fischbach sagt. Erst nachdem er die Verwaltung davon überzeugt hatte, dass das Gehirn kein Muskel ist, haben die Beamten die Anordnung der amtsärztlichen Untersuchung zurückgenommen. Seit über einem halben Jahr muss er die drei Kilometer von seinem Büro nach Hause fahren, wenn er auf die Toilette muss. Weil also immer noch nichts passiert ist, ist Fischbach vor das Verwaltungsgericht gezogen. Aber bis das entscheidet, wird er wohl im Ruhestand sein.

Ein Antidiskriminierungsgesetz hilft in solchen Konflikten gar nichts. Behinderte brauchen Sonderrechte, damit sie teilhaben können. Die bloße Gleichbehandlung ist zu wenig.

Claus Fischbach sagt, er sei ein Behinderter in einer privilegierten Situation. Behindertengerechtes Auto, Pflegekräfte nach seiner Wahl, eine Wohnung mit neun Telefonen, die vom Fußboden aus zu erreichen sind, wenn er aus dem Rollstuhl gefallen ist. „Bei Licht besehen stehe ich aber dennoch vor dem Trümmerhaufen der Nutzlosigkeit und der Einsamkeit“, schreibt er in einem Fax, das er nach dem Treffen im „Knipperle“ verfasst hat, aus Angst, ein zu „toughes“ Bild eines Behinderten vermittelt zu haben. Es sind die nicht sichtbaren Barrieren, die nicht mit einer Rampe zu überwinden sind, unter denen er am meisten leidet. „Als besonders schlimm empfinde ich, dass ich nicht mehr gefordert werde. Kaum jemand traut mir, dem Behinderten, etwas zu oder erwartet etwas von mir. Es ist so ein undifferenziertes Verständnis, das einen früher oder später zu einem Nichtsnutz macht, der keine andere Aufgabe hat, als für sich selbst zu sorgen.“