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Archiv-Artikel

DIE 66. FILMFESTSPIELE IN VENEDIG

Mehrmals fällt die Kamera zu Boden, Batterien werden schwach, die Elektronik nimmt Schaden im Kampf mit den Monstern

Auf Baustellen und im Horrorfilm verliert man leicht den Überblick

Ein Bauzaun ragt auf dem Platz vor dem Palazzo del Casinò auf. Er ist mit weißer Plane bespannt, so dass man nicht hindurchgucken kann. Wenn man aus dem dritten Stock des Gebäudes draufschaut, sieht man planierten Boden, dahinter ein schmales Stück Straße, dann den Strand mit den Kabinen und Stegen, schließlich das Meer, ein paar Baumaschinen stehen herum. In drei Jahren soll an dieser Stelle ein neues Festspielhaus eingeweiht werden. Modellskizzen auf der Zaunplane versprechen eine golden glitzernde Fassade, kühn geschwungene Linien werden das Innere bestimmen.

Einstweilen muss man mit einem neuen Saal namens Sala Perla 2 vorliebnehmen, einer improvisierten, quaderförmigen Anlage für 450 Zuschauer, und in den Palazzo del Casinò gelangt man durch den Hintereingang. Dass die Mostra entschlossen ist, ihre Infrastruktur zu verbessern, überfordert alle Neuankömmlinge ein wenig – wo geht’s denn jetzt zu den Pressefächern, wie zum Eingang der Sala Perla 2? Die Polizisten, die am Rande des Zauns für Ordnung sorgen, nehmen ihre Aufgabe sehr ernst: „Das ist eine Einbahnstraße!“, rufen sie mir zu, als ich an ihnen vorbeiradele. Und wie komme ich zum Eingang? „Zu Fuß!“

Mit Sizilien in Italien punkten

Dem Eröffnungsfilm, Giuseppe Tornatores „Baaria“, hätte eine Modernisierung gut getan – „Baaria“ ist ein pittoreskes Sizilien-Epos, das vom Leben des Schafhirten und Kommunisten Peppino Torrenuova und damit en passant auch von der Kleinstadt Bagheria (auf Sizilianisch: Baaria) im Osten Palermos erzählt, dem Geburtsort Tornatores. Es kommt so ziemlich alles vor, was einem bei Sizilien durch den Kopf geht: die Mafia und die Armut, der Schwertfischfang und die Olivenernte, Großgrundbesitzer und arme Schlucker, alte Frauen in schwarzen Kleidern und junge Frauen von umwerfender Schönheit. Geschwätzig und mit einem Faible für Massenszenen jagt Tornatore durch das 20. Jahrhundert.

Magischer Realismus, Schelmenstück und Politchronik mischen sich zu einem süßlichen Spektakel, das möglicherweise die Honoratioren am gestrigen Eröffnungsabend beglückte, sonst aber nicht weiter der Rede wert ist. Dass „Baaria“ einer von insgesamt vier italienischen Wettbewerbsbeiträgen ist, wird als ein strategischer Schachzug erachtet. Ist die italienische Filmindustrie erst einmal besänftigt, kann Marco Mueller machen, was er will.

Der Zombiegriff nach der Kamera

Der Horrorfilm „[Rec 2]“ von Jaume Balagueró und Paco Plaza (außer Konkurrenz) dürfte den Vorlieben des Festivaldirektors schon eher entsprechen, kommt aber an die Überraschungseffekte, die den ersten Teil bemerkenswert machten, nicht heran. Schauplatz ist erneut ein Mietshaus in Barcelona, in dem ein geheimnisvolles Virus wütet und Menschen zu Zombies werden. Das Sequel setzt ein mit der Nahaufnahme einer Todesangst ausstrahlenden Frau, aufgenommen im Nachtsichtmodus. Auch im zweiten Teil stammen alle Filmbilder von Kameras, die von wechselnden Filmfiguren bedient werden. In „[Rec]“ besorgte das Team einer Reality-TV-Show die Aufnahmen, in „[Rec 2]“ dreht ein Angehöriger der Armee, manchmal sieht man auch die Aufnahmen, die von Digicams an den Helmen der Soldaten stammen. Später kommt ein Trio leichtsinniger Jugendlicher mit einer Videokamera hinzu.

Dieser Kniff bringt mit sich, dass immer eine Figur in der Szene anwesend ist, die der Zuschauer nicht sieht und deshalb bisweilen auch nicht mehr als Akteur wahrnimmt – bis einer der Zombies den Kameramann bzw. die Kamerafrau direkt angreift und man so recht brutal auf deren/ dessen Anwesenheit gestoßen wird. Mehrmals fällt die Kamera zu Boden, die Batterien werden schwach, die Linse und die Elektronik nehmen Schaden im Gefecht mit den Monstern, und die Nachtsichtfunktion taucht alles in ein ungesundes Grün. Das ist denn vielleicht auch die hellsichtigste Volte, die sich die Regisseure haben einfallen lassen: Manche Monster sieht man dann am besten, wenn man gar nichts mehr sieht.

CRISTINA NORD