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Man erwartet Cowboys zu Pferde. Und bekommt: Polizisten auf Motorrädern

Ein Abgesang auf Amerika

In sehr eng kadrierten Ausschnitten präsentiert die Kamera in den ersten Bildern von „Electra Glide in Blue“ dies: ein Gewehr, das geladen wird. Eine Schnur, die geknotet wird. Zwei Steaks, die gebraten werden. Einen Schuss, der sich löst. Blut, das spritzt.

Die Suggestion der Montage: Man sieht hier jemanden bei der Vorbereitung eines Suizids. Aber dann ist da nach dem Schuss und dem Blut einer, der sich vom Steak auf dem Herd ein Stück schneidet. So wird der Kriminalfall geschürt, der dem Film seine Handlungsgrundlage gibt.

In Ausschnitten geht es weiter. Nur Teile des Körpers eines Manns sind zu sehen. Er klettert ohne Gesicht nach dem Sex aus dem Bett. Dann beobachtet ihn die Kamera bei Klimmzügen von hinten, beim Training mit Hanteln. Sie sondiert den Raum, der bei Schwenks manchmal verschwimmt.

Der Mann, dessen Gesicht wir noch immer nicht kennen, gerät aus dem Bild, wieder hinein; dazwischen geraten der Kamera, die durch den Raum schweift, Sternen und Streifen der amerikanischen Flagge in den Blick: „Electra Glide in Blue“, 1972 entstanden, ist ein Film über Amerika, seine Mythen, seine Symbole, seine Wirklichkeit – und ganz gewiss keine Feier, sondern ein Abgesang.

Nach dem Vorspann geht es vom Engen ins unendlich Weite. In atemberaubenden Cinemascope-Bildern fängt Kameramann Conrad Hall die ikonische Landschaft des Monument Valley ein. Der ferne Horizont, die Hitze, die Wüste und die charakteristischen Felsformationen. Man erwartet Cowboys zu Pferde. Und bekommt: Polizisten auf Motorrädern. („Electra Glide“ ist der Name eines Harley-Davidson-Modells.) John Wintergreen, der Polizist, den der Vorspann aus Teilen zusammensetzt, ist einer von ihnen. Er ist, das macht eine der wenigen genuin komischen Szenen des Films sehr deutlich, ein sprichwörtlich wie buchstäblich kleiner Mann. Bravourös vermittelt Robert Blake Energie wie Melancholie dieser ambivalenten, aber immer wieder sympathiewürdigen Figur und spielt den Cop mit dem sprechenden Namen als einen, der gerne freier wäre, als er ist, und als einen, der höher hinauswill, als er unter den gegebenen Umständen kann.

Mit seinem offen reaktionären Kollegen und Freund Zipper (Billy Green Bush) jagt er auf den Straßen des Monument Valley von Gesetzes wegen Schnellfahrer und aus Abneigung gegen alles Linke Männer mit Bärten. Das große amerikanische Landschaftspanorama kontrastiert der Film mit dem großen Hass und den kleinkarierten ideologischen Kämpfen, die, so seine Diagnose, die Aufbruchshoffnungen der Sechzigerjahre zerstörten. Der Mordfall wird dem Kriminalpolizisten Harve Pool (Mitch Ryan) zum Vorwand, Hippies und Biker zu Tode zu jagen. Schon zuvor sah man die Polizisten am Schießstand: Es wird auf ein Poster von Dennis Hoppers „Easy Rider“ gezielt. Zwar wird sich John Wintergreens Traum vom Aufstieg zum Zivilpolizisten erfüllen, dabei aber als amerikanischer Albtraum erweisen.

„Electra Glide in Blue“ ist, obgleich er es in den Wettbewerb von Cannes schaffte, ein Maverick noch unter den Außenseiterfilmen der New-Hollywood-Zeit. Regisseur James William Guercio hatte als Produzent der Band „Chicago“ (deren Mitglieder haben sämtlich kleine Rollen im Film) das kleine Vermögen verdient, das er in diesen, seinen ersten und letzten Film steckte. Er verzichtete sogar aufs eigene Honorar, um sich den berühmten Kameramann Conrad L. Hall leisten zu können. Ohne dessen herausragende Arbeit im Engen und Weiten würde der Film wahrscheinlich von seinen überdeutlichen Botschaften erdrückt. Auch so ist er eher aufschlussreiches Symptom als überzeugende Analyse seiner Entstehungszeit. In seinen größten Momenten aber gelingt es ihm, deren Geist in zwingende Bilder zu fassen.

EKKEHARD KNÖRER

■ „Electra Glide in Blue“ von James William Guercio, USA 1972. In der deutschen Version trägt der Film den Titelzusatz „Harley Davidson 344“. Die DVD enthält eine Einführung und einen informativen Audiokommentar des Regisseurs und ist ab rund 16 Euro allgemein im Handel erhältlich