Niemand und nirgendwo sein

Das Versteck als Motiv der Literatur und Symptom der Melancholie: Petri Tamminens prosaische Betrachtungen über „Verstecke“

Die Welt ist laut und voll und zudringlich. Der Bedarf an Orten, an denen der Einzelne für ein paar Stunden ungestört seinen Träumen nachhängen kann, wird sträflich unterschätzt. Zur Not muss die Fähigkeit genügen, sich mitten in einer Menschenmenge unsichtbar zu machen. Deutsche Fußgängerzonen, die sowieso in jeder Stadt gleich aussehen, sind dafür durchaus geeignet. Vielleicht stehen dort ein paar traurige Koniferen herum, hinter denen man abtauchen kann. Die Möglichkeit, das städtische Reiterdenkmal aufzuschweißen, um in den dunklen Leib des Pferdes zu kriechen, ist nun mal nicht jedem gegeben.

Vielleicht muss man, wie der Finne Petri Tamminen, in den weiten, baumbestandenen Ebenen des Nordens zu Hause sein, um zum Experten für Verstecke heranzureifen. Tamminen, vor ein paar Jahren mit dem großartigen, sauna- und schnapshaltigen, finnenexistenzialistischen Roman „Der Eros des Nordens“ auch hierzulande bekannt geworden, legt nun eine Art Ratgeber für Rückzugsbedürftige vor. Angesprochen wird damit weniger die Personengruppe, die sich aus politischen Gründen oder anderen Überlebensnotwendigkeiten versteckt wie die Brüder aus Estland, die sich jahrelang im Wald vor den Russen verbargen, oder die unauffindbaren Indianerstämme in den Urwäldern des Amazonas. Auch Anne Frank, die tragische Heldin des Verstecks, gehorchte einer schrecklichen äußeren Notwendigkeit. Ihr gehört Tamminens Bewunderung und Sympathie, doch sein Interesse richtet sich eher auf Menschen, die sich scheinbar ohne Grund in ein Versteck begeben. Bei ihnen entdeckt er etwas Elementares und Untrügliches über das Leben: „Man hat das Gefühl, als würde auch der eigene Kummer verständlich werden.“

Wer sich versteckt, ist eine Art Verweigerer. Er hat es satt, angestarrt zu werden und irgendwelchen Anforderungen genügen zu müssen. Er nimmt sich eine Auszeit und atmet durch. Verstecker sind melancholische Wesen. Auf dem Dachboden begegnen sie abgelegten und vergessenen Dingen aus vergangenen Zeiten. Im Museum interessieren sie sich nicht für die Kunst, sondern für die trittschwere Stille, in die sie hineingleiten wie in einen Nachmittagsschlaf. In der gepflegten Behindertentoilette im hintersten Winkel eines Flughafengebäudes kommen sie nach jahrelanger Umtriebigkeit endlich zur Ruhe.

In seinen kurzen Prosastücken, eher Betrachtungen als Geschichten, leuchtet Tamminen jedes denkbare Versteck aus. Das könnte man ihm vorwerfen, weil man Verstecke doch niemals verraten darf. Taugen das Innere des Fabrikschornsteins, der abgelegene Flur im Amtsgebäude, der Heuhaufen auf der Sommerwiese jetzt noch, um darin zu verschwinden? Literatur aber ist selbst ein Versteck, in das die Leser eintauchen können. Im Film hat man es eher mit Fluchten zu tun, die dynamisch sind und nicht groß erklärt werden müssen. Im Versteck passiert nichts, was man durch bloße Anschauung begreifen könnte. Das Versteck ist deshalb, so Tamminen, das Motiv der Literatur.

Zwei Verstecke stellt er besonders heraus. Das ist zum einen die in Deutschland beliebte Veranstaltungsform der Dichterlesung. Er selbst erlebte, dass er immer wieder gebeten wurde, in finnischer Sprache zu lesen, verbarg höflich seine Verwunderung und tat, was man von ihm verlangte. Dabei stellte er sich vor, wie schön es sein müsste, in der letzten Reihe bei gedämpfter Beleuchtung dem Plätschern einer fremden Sprache zu lauschen und in den Dämmer zu gleiten: „Dort, in der Unsichtbarkeit des hintersten Winkels der Buchhandlung, hört die Zeit auf zu existieren. Dort darf man für einen Augenblick niemandem gehören, man darf niemand und nirgendwo sein.“

Das sind die Momente, die Tamminen sucht. In Finnland, so sein Rat, sollte man sich zu diesem Zweck ein Reihenhaus in Janakkala kaufen. So macht es der Meister der Verstecke: „Er grüßt die Nachbarn und beteiligt sich an der gemeinschaftlichen Grundstückspflege. Er bewegt sich für alle sichtbar, wenn aber die Nacht kommt und die Siedlung still wird, legt er sich in sein Bett und bebt vor Wonne.“ JÖRG MAGENAU

Petri Tamminen: „Verstecke“. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 102 S., 15 Euro