: Nicht nur konventionell
GESUNDHEIT Patienten können selbst etwas tun: In der anthroposophischen Medizin ist der ganze Mensch gefragt. Die integrative Krebstherapie gewinnt in Fachkreisen an Ansehen
VON ANGELIKA SYLVIA FRIEDL
Heimlich, still und leise bahnt sich eine kleine Revolution in der Krebstherapie an: Schätzungsweise 90 Prozent aller Brustkrebspatientinnen nutzen auch alternative Methoden, von der Misteltherapie bis zur Psychoonkologie. Die behandelnden Ärzte erfahren davon oft aber gar nichts. Denn die Kranken gehen davon aus, nicht ernst genommen zu werden. Doch langsam ändert sich das Bild – die „integrative Therapie“ macht auch in Fachkreisen von sich reden. So fand Anfang 2012 in Berlin erstmals ein Ärztekongress über integrative Therapie bei Brustkrebs statt. Fast zur selben Zeit gründeten Krebsmediziner die Arbeitsgemeinschaft „Prävention und integrative Onkologie“. Auch die Deutsche Krebshilfe denkt um und fördert den Aufbau des Kompetenznetzwerks „Komplementäre Medizin in der Onkologie“.
Die integrative Medizin betrachtet verschiedene Therapiekonzepte als gleichwertig. Vor allem sollen die Bedürfnisse der Kranken im Mittelpunkt stehen. Was aber in der Schulmedizin als neu gilt, ist für Anthroposophen ein alter Hut. „Die anthroposophische Medizin war schon immer ganzheitlich, auf die Patienten ausgerichtet und interdisziplinär“, sagt Marion Debus, Fachärztin für innere Medizin am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Die anthroposophische Medizin setzt auch auf konventionelle Behandlungsmethoden. Chemotherapie, chirurgische Eingriffe, Antikörper- und antihormonelle Therapien gehören selbstverständlich zum Handwerkszeug.
Daneben können Patienten nach Beratung durch ihren Arzt aber auch alternative Therapien wählen. „Eine Chemotherapie kann zum Beispiel durch eine Misteltherapie sinnvoll ergänzt und auch im chemotherapiefreien Intervall fortgeführt werden“, erklärt die Onkologin Debus. Ein großes Arsenal von unterstützenden Therapien bietet die anthroposophische Medizin auch gegen die schweren Nebenwirkungen, unter denen krebskranke Menschen oft leiden – von Wickeln und Einreibungen über Pflanzenheilkunde bis zu Ölbädern und rhythmischen Massagen. Und schließlich spielen Lebensstilfaktoren wie Bewegung und Ernährung in der Behandlung eine große Rolle – Bereiche, die von der Schulmedizin lange vernachlässigt wurden. So unterscheiden sich etwa die Speisepläne der anthroposophischen Kliniken erheblich von denen anderer Krankenhäuser. Im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe kann man gesundes Vollkornbrot vom Biobäcker essen. Gemüse, Obst und Joghurtprodukte werden von Biolandwirten aus der Umgebung geliefert.
Der strahlende Stern unter den anthroposophischen Mitteln ist die Mistel – eines der bekanntesten Krebsmedikamente überhaupt. Naturwissenschaftlich orientierte Ärzte sind allerdings der Meinung, dass sie vermutlich nicht gegen Krebs wirkt. Allenfalls könne sie bei Brustkrebspatientinnen, so vorsichtig formuliert es das Deutsche Krebsforschungszentrum, die Lebensqualität verbessern. Ganz anderer Ansicht ist Ärztin Marion Debus: „Eine ganze Reihe von Studien zeigen, dass Mistelpräparate Brustkrebspatientinnen helfen, eine Chemotherapie besser zu ertragen, und diese dann viel weniger unter Erschöpfungssyndromen leiden.“ Aber die Heilpflanze stärke nicht nur die Selbstheilungskräfte, sie könne auch in einigen Fällen direkt einen Tumor zurückdrängen. „Unsere Verlaufsbeobachtungen zeigen, dass zum Beispiel Patienten mit Darm- und Pankreaskrebs, die eine Misteltherapie erhielten, deutlich länger leben, als man es bei diesen Krebsarten erwarten kann.“
Neben der klassischen Misteltherapie, bei der sich die Patienten die Extrakte selbst unter die Haut spritzen, wurden weitere Therapien entwickelt, unter anderem die hoch dosierte Misteltherapie mit Fieberinduktion. Hier stand die Idee Pate, dass bei erhöhter Körpertemperatur das Immunsystem besser funktioniert. Da Krebspatienten eine leicht erniedrigte Körpertemperatur besitzen, soll die Kur der geschwächten Körperabwehr auf die Sprünge helfen.