: Europa im Frühling
HEGEMONIE Die EU-Krise sowie die Proteste gegen eine Abwälzung ihrer Folgen nach unten drohen zu eskalieren. Die kritische Europaforschung untersucht die Dynamiken der Vielfachkrise
VON RUDOLF WALTHER
Spätestens das schleppend-zähe Krisenmanagement der EU hat belegt, dass nicht nur der Kapitalismus und insbesondere das Finanzsystem in einer tiefen Krise stecken, sondern auch die EU. Die EU ist ein Un- oder Pseudostaat mit defizitären demokratischen Institutionen, schwacher Bürokratie, stark ausgeprägtem Lobbyismus und komplexen Entscheidungsstrukturen.
Die EU ist unter anderem deshalb so krisenanfällig, weil in ihr ökonomische Krisen unvermittelt auf die politischen Strukturen durchschlagen. Wirtschaftlicher Erfolg ist die Legitimationsressource der EU. Bleibt der wirtschaftliche Erfolg aus, gerät die EU über Nacht in eine politische Krise.
Wie sehr die EU wegen dieser Fragilität an Grenzen stößt, zeigt der Versuch der EU-Gremien, den Bevölkerungen der südeuropäischen Staaten von Griechenland über Italien und Spanien bis Portugal das neoliberal imprägnierte „Krisenbewältigungsprogramm“ unter den schillernden Parolen „Schuldenbremse“, „Rettungsschirm“ und „Fiskalunion“ aufzuherrschen. Die Völker wollen dabei nicht mehr mitspielen, die Regierungen sind am Ende ihres Lateins und geben die Macht (vorübergehend) an technokratische Gremien ab.
Die von der DFG geförderte Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“, zu der unter anderen Sonja Buckel, Fabian Georgi, John Kannankulam und Jens Wissel gehören, beschäftigt sich mit den tieferen Ursachen und den Lösungsmöglichkeiten für die manifeste EU-Krise. Insgesamt bietet der Band eine solide Krisenanalyse. Methodisch gehen sie von einem neogramscianischen Ansatz aus, das heißt, sie sehen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten wie in den EU-Gremien selbst konkurrierende Hegemonieprojekte am Werk.
Davon gibt es nach den Analysen der Forschungsgruppe mindestens vier: das neoliberal-autoritäre Projekt sans phrase, mit dem die Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission eine Krisenlösung von oben durchdrücken wollen; das nationalstaatlich-soziale Projekt, getragen von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die sich jedoch beide in der Defensive befinden; das nationalstaatlich-konservative Projekt der alten Eliten und das proeuropäisch-soziale Projekt aufgeklärter Sozialisten und Gewerkschafter, die jedoch genauso minoritär sind wie die Träger des linksliberal-alternativen Projekts, das auf Bürger- und Menschenrechte sowie radikale Demokratie setzt.
Mögliche Allianzen
Die vier Hegemonieprojekte sind nicht nur in ihrer sozialen Zusammensetzung sehr unterschiedlich, sondern auch in ihrem Potenzial, hegemonial zu werden. Die Forschungsgruppe schätzt die Verwirklichungschancen der vier Projekte realistisch ein: Allianzen zwischen proeuropäisch-liberalen und autoritär-neoliberalen Kräften sind ebenso möglich wie ein Schulterschluss von neoliberalen und rechtsnational-konservativen. Eine emanzipatorische Perspektive eröffnete allein ein Bündnis von proeuropäisch-sozialen und postnational-linksliberal-alternativen Kräften, die sich auf die Durchsetzung „radikaler Demokratie“ verständigen würden.
Sechs Beiträge vertiefen einzelne Aspekte und Perspektiven der Krise von der Gefahr eines „autoritären Wettbewerbsautoritarismus“ (Lukas Oberdörfer) über „Schengener Grenzregime“ (Bernd Kasparek, Vassilis S. Tsianos) bis zur Macht des Lobbyismus in der EU (Pia Eberhardt). In Brüssel gibt es 15.000 bis 30.000 Lobbyisten. 70 Prozent davon vertreten Kapitalinteressen mit wachsender Professionalisierung. Das macht den grün-linksliberal-sozialdemokratischen Ruf nach „mehr Europa“ zumindest ambivalent. Die Autorin plädiert deshalb für einen Übergang vom „Ja, aber“ zu einem „Nein, es sei denn“ für „ein Europa von unten, direkt-demokratisch, sozial, ökologisch und antinational.“ José Manuel Romero Cuevas zeigt anhand der demokratischen Protestbewegung in Spanien, dass diese trotz ihrer realpolitischen Wirkungslosigkeit „eine wichtige Rolle als gesellschaftlicher Katalysator spielen und Referenz für die sozialen Kämpfe sein“ können. Mit anderen Worten: Die Protestbewegungen können Demokratisierungsprozesse befördern.
■ Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): „Die EU in der Krise. Zwischen Etatismus und europäischem Frühling“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2012, 165 Seiten, 15,90 Euro