Der ästhetischen Erziehung eine Absage

Ende des Welttheaterexperiments in der Kleinstadt: Bald muss der Intendant Res Bosshart gehen. Vorher zeigen das traditionsreiche, schnucklige Theater in Meiningen und sein junges Ensemble noch einmal, was sie alles können: Uraufführung von Schillers Romanfragment „Geisterseher“

Endzeitstimmung in Meiningen. Zur Eröffnung der 14. Meininger Theaterwoche ist die Bühne mit Holzplatten verrammelt: kein Einlass ins Illusionstheater. „Geisterseher“ heißt das Thema der Woche, die mit einer Art Uraufführung des Schiller’schen Romanfragments gleichen Namens beginnt. Doch die Austreibung der Geister, die die kleine südthüringische Theaterstadt vor zwei Jahren mit Res Bosshart als Intendanten und mit seinem Chefregisseur Sebastian Baumgarten ins Haus rief, ist schon fast gelungen. Kurz vor dem Beginn der Schillerwoche am traditionsreichen Stadttheater nahe der bayrischen Grenze war das Kündigungsschreiben da – der Stiftungsrat und sein Intendant trennen sich. Und so gibt man sich nun auf der Bühne noch einmal das Mikrofon in die Hand, schlägt hinter dem Rücken das Kreuz und spielt Theater.

Vor dem Holzverschlag und der Aufführung inszeniert der scheidende Intendant seinen Abschied zwischen Kabeltrommel und Premierenpublikum in cooler Melancholie. Nach Weimar sei er vor kurzem gereist und habe den alten Schiller in seiner Gruft besucht. Er habe einen Unruhegeist vorgefunden, auch wenn kulturbeflissene Menschen ihn in seine Grabesruhe zurückdrängen möchten. Doch der Meininger Theatermacher weiß: Das Spiel der Identifizierung mit dem toten Dichter ist schal. Nichts bleibt, wenn Res Bosshart Thüringen nun verlässt. Das Feld für die Politik hingegen ist wieder weit geöffnet. Und so hat der Schweizer, den man als Avantgarde aus Hamburg holte, seine Rolle vielleicht einer anderen Regie zu verdanken. Nach seinem dreijährigen Intermezzo ist der Boden für einen zweiten Fusionsversuch mit dem Eisenacher Theater nun günstig. Nicht zuletzt das mächtige Publikum aus dem bayerischen und hessischen Westen, das in Meiningen sein Konventionstheater auf hohem handwerklichem Niveau sucht, könnte damit gut leben. Und Meiningen lebt gut von diesen Gästen.

Zumindest der Prinz auf der Meininger Bühne aber ist nach diesem Vorspiel des Intendanten in der anschließenden Inszenierung dann doch nicht das Unschuldslamm. Am Anfang explodiert die Autobombe. Lautlos wird der Rauch zwei Stunden später – über einer orgiastisch wüsten Bühne – noch einmal aufsteigen. Hatte der Prinz hier seine Hände selbst im Spiel? Das Opfer zumindest ist einmal mehr der böse Onkel, der den Thronfolger an der rechtmäßigen Nachfolge hindert. Auf dieses künftige Kapital seines Duodezfüstensitzes aber lässt sich der protestantische Prinz von manch dunkler Macht seine Wechsel für rauschende Partys ausstellen. Ein bisschen Hamlet, ein bisschen Faustus, bestellt er damit das Feld der Uneindeutigkeiten und des Übergangs. Und so fällt denn auch bald die Holzverkleidung der schnuckeligen Meininger Bühne, und es entfaltet sich zwischen Gartenzwergen und Geheimbündelei, Ecstasy und Überdruss das schauerromantische Spiel der Macht und des Humbugs.

Die Zwischenzeit des Festes ist angebrochen und verteilt die Rollen neu. In einem ungeheuren Tempo verknüpft das junge Meininger Ensemble die Romanfragmente Schillers und die Videoeinspielungen in der Theaterfassung von Ralf Fiedler, getragen von Ingo Günthers Kompositionen auf offener Bühne. Im Stakkato rattert der Graf von O** (Michael Stoerzer) als cooler Zivi seine Sachstandsberichte runter; distanziert und fassungslos folgt Katherina Wolter in der Rolle des Baron von F** dem Treiben; Szenenapplaus für den „Armenier“, dem vermeintlichen Kopf der Verschwörung, der Baudrillard beschwört und jeder ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts eine höhnische Absage erteilt.

Ein letztes Mal, bevor in Meiningen andere die Macht übernehmen, setzt die Regie Sebastian Baumgartens zwischen dunklem deutschem Märchenwald und abgehalfterter Hippieszenerie den Guckkasten der Theaterstadt unter Strom: In diesem defekten faradayschen Käfig verenden die Bösewichter zuckend im Orchestergraben, und das Publikum bleibt auf der anderen Seite der Lethe. Aber vielleicht war dies der Fehler des Bosshart’schen theatrum mundi in Meinigen. In die Kleinstadt hinein hat der Theatermann seine Inszenierungen wohl nie richtig getragen. Der große, solidarische Applaus des Premierenpublikums täuscht darüber hinweg. „Wenn die Abonnenten kommen, werden wir die Fickszenen nicht nur spielen“, droht eine Schauspielerin in der Theaterkantine trotzig. Doch daran fehlte es nicht. FRITZ VON KLINGGRÄFF