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Archiv-Artikel

Das ist das Leben in der Stadt

Ab sechs Uhr heute Morgen starten RBB und Arte ihre 24 Stunden lange Sendung über einen Tag in Berlin. Acht Protagonisten stellen wir hier vor, mit kleinen Hinweisen, was sonst noch passiert

6–9 Uhr

Margarete Hain misst ihren Blutdruck

Eigentlich soll die Rentnerin auf ihren Cholesterinspiegel achten: Sie hat Parkinson. Sie soll nicht nur Blutdruck messen, ihr Arzt empfahl ihr auch eine bewusstere Ernährung – doch das hat die 86-Jährige aufgegeben. Denn sie kocht seit kurzem wieder selbst und das ist deftig bei der gebürtigen Schlesierin, die seit 60 Jahren in Schöneberg wohnt. Heute auf dem Speiseplan: Königsberger Klopse. Als Beilage Kreuzworträtsel und ein Mankell-Krimi.

Berlin steht auf und beginnt sein Tagwerk: In der Justizvollzugsanstalt Tegel darf Kurt Lummert aus seiner Zelle, frühstückt und nimmt in der Gefängnismalerei den ersten Pinsel in die Hand, in der Charité wird Leonie Lehmann geboren und der Talmudschüler Alex Beribes spricht sein Morgengebet.

9–12 Uhr

Jérôme Bony bringt seine Tochter in die Kita

Der Deutschlandkorrespondent des französischen Fernsehsenders France 2 lebt seit fünf Jahren mit seiner Familie in Berlin. Très chic mit Blick auf den Gendarmenmarkt. Nach der Kita fährt Bony mit einem Kamerateam zum Honecker-Bunker in die Brunnenstraße: Ein Stück über deutsch-deutsche Geschichte drehen. Für den Abend haben er und seine Frau Lorraine Rossignol Freunde zum Essen eingeladen. Auch très chic wird ein aus mehreren Gängen bestehendes Menü serviert. Bis der Tag für Bony endet – mit einer Zigarre auf dem Balkon über dem Gendarmenmarkt.

Von einer Wohnung am Gendarmenmarkt ist Jacqueline Assmann weit entfernt: Sie bettelt in der S-Bahn, trägt dazu selbstverfasste Gedichte vor. Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor und künstlerischer Leiter der Staatsoper Unter den Linden, probt mit dem Ensemble „Eugen Onegin“. Hardy Wischmeier schleppt Autos ab, das ist sein Beruf. Er ist genervt von den vielen roten Ampeln, die kosten zu viel Zeit – auch das ist Teil seines Berufs.

12–15 Uhr

Abdoulaziz Sinka, Tellerwäscher und Jazzmusiker

In einem Holly- oder Bollywoodfilm würde der 29-jährige Sinka bald von einem Talentscout entdeckt und könnte seinem Job entfliehen und nur noch Musik machen. Doch Berlin ist weder das eine noch das andere, und so steht der Mann aus Burkina Faso auch an diesem 5. September wieder im Hotel InterContinental in Charlottenburg in der Abwäscherei, und jazzt abends mit seiner Band in Friedrichshain.

Musik macht auch Ali Haydar, er will Rapper werden. Zu diesem Zweck schaut er sich jetzt Videos im Internet an – von Rappern, die schon Rapper sind. Nadja und Viktor Singer, Russlanddeutsche aus Sibirien, kochen Mittag: Es gibt Pelmeni im Marzahner Plattenbau.

15–18 Uhr

Kai Diekmann sinniert über die Schlagzeile

Um kurz vor 18 Uhr steht die Bild-Ausgabe für den 6. September 2008. Eine Studie hatte herausgefunden, dass Hartz IV Luxus sei und 132 Euro zum Leben reichten. Mit diesem Thema geht der 44-jährige Diekmann auf die Titelseite. Am Ende des Produktionstages, bei dem ihn Regisseur Andres Veiel begleitete, dreht der Bild-Chef den Spieß um, zückt seine Handy-Kamera und befragt den Regisseur.

Hartz IV Luxus? 132 Euro zum Leben? Marina Schneider wurden gerade ihre Hartz IV-Bezüge gekürzt. Sie spricht mit ihrer Sachbearbeiterin des Jobcenters Pankow. Derweil eröffnet Gerd Harry Lybke in seiner Galerie Eigen+Art eine neue Ausstellung. Der Leipziger Lybke und seine Galerie wurden mit Bildern von Neo Rauch reich und berühmt. Hauswirtschaftspflegerin Anne Wenzel hat vermutlich keinen Neo Rauch in der Wohnung hängen. Sie ist auf dem Fahrrad unterwegs zum nächsten Patienten.

18–21 Uhr

Martha Foday liest vor dem Einschlafen

Der Terminkalender einer Elfjährigen: Erst steht die Grundschule auf dem Plan, dann Tennistraining, anschließend wird mit den Freundinnen „Germany’s next Topmodel“ nachgespielt und dann, ja dann ist der Tag auch schon rum. Es warten Buch und Bett. Geträumt wird vom Tennis-Olympiasieg, nicht von der Modelkarriere – obwohl eigentlich auch beides geht.

Während Martha einschläft, steigt der Stromverbrauch der Stadt: Herdplatten, Fernseher und Lampen werden eingeschaltet. Auch bei Nazli Kirci und ihrer Familie. Denn seit die Sonne um exakt 19.56 Uhr am Horizont verschwunden ist, dürfen sie das Fasten während des Ramadans brechen.

21–24 Uhr

Mario Hempel schaut sich ein Feuerwerk an

Mario Hempel hat früher in der Rockband Report gespielt. Heute ist er Geschäftsführer der Pyronale, dem Feuerwerk-World-Championat. In zwei Tagen streiten sechs Teams um das beste Feuerwerk, eine Jury entscheidet. Die Zuschauer können über Handy den Tagessieger bestimmen. 20.000 Menschen werden zur Pyronale auf dem Olympiagelände erwartet.

Nicht ganz so voll, aber freitags immer trotzdem so gut wie ausgebucht ist das Restaurant Margaux. Chefkoch Michael Hoffmann und seine Crew arbeiten in der Küche am guten Essen. Während in der JVA Tegel um 22 Uhr die Zellen abgeschlossen werden. Dann ist Kurt Lummert bis zum nächsten Morgen allein.

24–3 Uhr

Gloria Viagra tritt auf

Gloria Viagra ist Transvestit, DJ und Sänger der Band Squeezebox. Deren Shows sind legendär. Am Abend tritt Squeezebox im Monster Ronson’s, einer Karaokebar in Friedrichshain, auf. Vorher hat Gloria Freunde zu Besuch, mit denen er Schminke für seinen Auftritt kauft. Vor dem Soundcheck sehen sich die Freunde das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen im Tiergarten an. Ab elf Uhr spielt die Band.

Stephan Fleischer fährt Taxi, die ganze Nacht. Zu dieser Zeit kann er mehr verdienen als tagsüber. In der Notaufnahme der Charité werden die Fälle nach Dringlichkeit behandelt. Ist es lebensbedrohlich, geht es schnell, wer sich verletzt hat, aber sonst in guter Verfassung ist, muss lange warten, bis er einen Arzt sehen kann. Im Schlaflabor der Klinik wachen die Pfleger derweil über ihre Patienten, die durch eine Infrarotkamera beobachtet werden. Der Rapper Ali Haydar hängt mit seinen Freunden auf dem Herrmannplatz ab. Sie beschließen, zum Alexanderplatz umzuziehen, um nach Mädchen Ausschau zu halten.

3–6 Uhr

Ricardo Villalobos legt Platten auf

Ricardo Villalobos ist 38, DJ und Musiker. Er legt im Friedrichshainer Club Berghain auf. Dorthin reisen jedes Wochenende ganze Flugzeugladungen voller Raver von überall her. Denn der Club gilt als einer der besten, wenn nicht gar der beste Club der Welt. Das Fotografieren und Filmen ist hier sonst streng verboten. Die Leute sollen in Ruhe feiern dürfen, an einem der wenigen Orte in der westlichen Welt, die nicht von den ständig glotzenden Augen der Medien überwacht werden. Insofern ist dieser Blick ins Berghain eine rare Ausnahme. Villalobos ist immer auf der Suche nach neuen Sounds, sein Stil gilt als wegweisend. Wer ihm beim Auflegen zusieht, erblickt einen dünnen, konzentriert mit eckigen Bewegungen an den Plattentellern arbeitenden Mann.

Im Bordell Artemis arbeitet Sidney. Sie hat Pause. Im Berghain ist um fünf Uhr die Tanzfläche voll. Die Euphorie bewegt sich auf ihren Höhepunkt zu. Im Reichstag sind die Alarmanlagen eingeschaltet und Stephan Fleischer fährt mit seinem Taxi in den Morgen.