: Fahrt in die Fremde
RADSPORT Patrick Gretsch, 22, will als Jungprofi im Team Columbia groß herauskommen, Stephan Schreck, 31, der Ex-Telekom-Fahrer, hat seine Karriere bereits beendet. Der eine ist voller Hoffnung, der andere ernüchtert
AUS ERFURT MARKUS VÖLKER
An diesem Morgen ist Patrick Gretsch früh geweckt worden. Ein Dopingkontrolleur stand um 6.45 Uhr vor seiner Tür. Es war die sechste oder siebte Trainingskontrolle in diesem Jahr, so genau kann Gretsch sich nicht erinnern. „Das ist eine förderliche Sache, auch wenn sie ein bisschen lästig ist“, sagt er ein paar Stunden später im Erfurter Norden, an der Radrennbahn Rieth, auf der er wie ein Brummkreisel tausende von Trainingskilometern gedreht hat. Gretsch ist erst 22 Jahre alt und nahezu unbekannt, trotzdem gehört er in Deutschland zu den Leistungssportlern der ersten Kategorie. Die Elite, gerade wenn sie Fahrrad fährt, wird so oft getestet wie möglich. Der Radsport steht seit Jahren, ja im Grunde seit Jahrzehnten, unter dem Generalverdacht des Betrugs. Gretsch bewegt sich in dieser Szene, doch er reklamiert, noch unverdorben, ein ehrlicher Pedaleur zu sein. Er beruft sich auf sein Alter und seinen Amateurstatus, auf seine Einstellung und den Willen zum sauberen Sport.
Er ist Weltmeister geworden, Vizeweltmeister, mehrmaliger deutscher Meister, jeweils in seiner Altersklasse, er hat die Thüringen-Rundfahrt gewonnen, und er hat einen Vertrag unterschrieben, der ihn in eine neue Welt versetzen wird: in die Welt der Profis. Gretsch wird in der kommenden Saison für den Rennstall Columbia fahren. Sein Erfurter Kumpel Tony Martin erwartet ihn dort, der Jungprofi, der bei der diesjährigen Tour de France so spektakulär den Mont Ventoux hochgestürmt ist, auch Columbia-Profi André Greipel, der aktuell die Gesamtwertung der Spanienrundfahrt anführt. „Ich habe große Erwartungen“, sagt Gretsch, „aber ich habe auch ein bisschen Angst.“ Angst, den Erwartungen nicht gerecht zu werden, Angst, seinen Traum von einem Tour-Etappensieg nie umsetzen zu können, und auch etwas Angst vor der Gnadenlosigkeit des Profigeschäfts, vor den unseligen Riten der Alten. Der erste Profivertrag beendet die Adoleszenz eines U23-Radfahrers, also eines Athleten, der jünger als 23 ist, er muss erwachsen werden, mit allen Konsequenzen. Gretsch spricht von einer „Findungsphase“, die er überstehen müsse. Der spindeldürre Athlet fragt sich, wie er wohl die Belastung verkraften werde, künftig 5.000 Kilometer mehr im Jahr fahren zu müssen, vor allem harte Wettkampfkilometer.
Im Columbia-Team führen etliche Stränge zurück zum Team Telekom. Rolf Aldag, der ehemalige Profi im magentafarbenen Trikot, ist sportlicher Leiter des Columbia-Rennstalls, der ehemalige Sprinter Erik Zabel kümmert sich um die Neuprofis, also um Gretsch und Martin. Zabel und Aldag haben 2007 zugegeben, gedopt zu haben. Damals gab es eine Pressekonferenz, auf der Zabel nach seinem Dopinggeständnis sogar weinte oder es zumindest versuchte. Gretsch hat sich die Szene nicht angesehen, „ich wollte mich dafür nicht interessieren, weil der Sport für mich immer mit etwas Schönem assoziiert war, doch dann kam das ganze Schlechte, irgendwann habe ich es satt gehabt.“ Auf Trainingsfahrten musste er sich anpöbeln lassen von Autofahrern, „und das traf uns Nachwuchsfahrer, die damit absolut nichts zu tun hatten“.
Es war nicht die Zeit für Differenzierungen. Wer auf dem Rad saß, war einer von denen, ein Epo-Junkie, Blutpanscher, kurzum: eine radelnde Apotheke. Schuld daran war der Radsport selbst mit seinen Skandalen und seiner Doppelmoral. Auch der Bereich der U23-Fahrer war ja betroffen; der Bundestrainer Peter Weibel hatte junge Fahrer zu Doping angestiftet. Gretsch zeichnet für sich freilich eine heile, noch behütete Welt: „Als Nachwuchsfahrer habe ich von alldem noch gar nichts mitbekommen, hoffentlich erschrecke ich nicht in der Profiszene.“ Er glaubt, dass es „da nicht mehr so ist wie noch vor ein paar Jahren“.
Vielleicht hilft ihm sein Manager Jörg Werner dabei, sauber und auf Distanz zu unlauteren Praktiken zu bleiben. Der ehemalige Radprofi organisiert die Thüringen-Rundfahrt. Er hat einen strengen Antidopingplan entworfen. Beim ersten Dopingvergehen fordert er eine lebenslange Sperre. Außerdem müsste das Übel der ärztlichen Atteste bekämpft werden, denn viele Fahrer dürften Cortison einnehmen, weil sie angeblich Asthma oder Hüftbeschwerden haben. Gretsch hat gehört, dass man bei Columbia andere Wege der Leistungsoptimierung gehe: Windkanaltests, Einsatz modernster Technik und spezielle Gymnastik. „Es sind wohl viele Bausteine, die ein Bild ergeben“, sagt er.
Erfurt ist eine Radsportstadt. Vor Gretsch und Martin haben es Sebastian Lang, Daniel Becke und Stephan Schreck ins Profigeschäft geschafft. Schreck, 31, war vor neun Jahren in der Situation, in der sich jetzt Gretsch befindet. Schreck war Sieger der Thüringen-Rundfahrt, die regionale Presse feierte „das vielversprechendste Nachwuchstalent im deutschen Radsport“ (Thüringer Allgemeine), er hatte einen Vertrag mit Telekom in der Tasche, mit einer Equipe, die Mario Kummer, noch so einen Radler aus Thüringen, abgestellt hatte, damit er sich um die jungen Talente, die damals Matthias Kessler, Gerhard Trampusch und Schreck hießen, kümmere.
Wie Gretsch heute sprach Schreck damals voller Stolz davon, „ins mit Abstand beste Team der Welt“ zu wechseln. Schreck fuhr lange Jahre mit Jan Ullrich, Zabel und Aldag. Er hat alles mitgemacht, fast alles. Ende 2008 hat er aufgehört. Heute sagt er: „Ich habe den Abstieg von ganz oben nach ganz unten live miterlebt.“ Um die Jahrtausendwende war die Welt der Radler noch in Ordnung, Deutschland hingerissen von Ullrichs Gipfelstürmen. Dann kam der Absturz: Ullrichs Disko-Pille, der Skandal um die Mannschaftsärzte, das systematische Doping in der Uniklinik Freiburg, die Geständnisse, der Blutpanscher Eufemiano Fuentes, das beharrliche Leugnen Ullrichs, Epo, Cera und kein Ende. Schreck hat das alles von innen erlebt, als Teil des Systems.
Was weiß so einer? Was räumt er ein? Was streitet er ab? „Doping war nur Einzelnen vorbehalten“, sagt er, „das Risiko wäre doch zu hoch gewesen, wenn es flächendeckend angewendet worden wäre.“ Er war also nicht dabei? „Ja.“ Nur die Topfahrer hätten die Kuren mit Medikamenten bekommen, er, der Domestik und Wasserträger, nicht, versichert Schreck. „Was hätte es genutzt, wenn der Helfer gezüchtet ist, ich hätte ja trotzdem nicht gewonnen.“ Aus einem Ackergaul mache man kein Rennpferd, sagt Schreck. Macht sich da einer absichtlich klein? „Ich hätte nie eine Bergankunft gewonnen, ich hätte nie die Kraft gehabt, deswegen war Doping für mich kein Thema.“ Große Siege hat Schreck nie eingefahren, ein paar Etappenerfolge bei deutschen Rundfahrten hat er eingeheimst.
Den Sieg bei der Regio-Tour 2004 hat ihm sein Teamkamerad Alexander Winokurow weggeschnappt, eine Dreistigkeit, die Schreck, den braven Windschattenspender, bis heute aufbringt: „Für ihn war der Sieg nicht wichtig, für mich schon“. Er hat sich von Anfang an untergeordnet, hat sich, wie es heißt, in den Dienst der Mannschaft gestellt. Die großen Ambitionen hat er mit den Jahren als eilfertiger Radler verloren, es ging dann immer nur noch um den nächsten Vertrag mit Telekom. Er bewegte sich unauffällig im Schatten der Dopingelite aus dem eigenen Team. „Ich war schnell in einer Schublade drin“, bedauert er, dabei habe er anfangs „Visionen“ gehabt. In der Mannschaftshierarchie hat er es aber nur bis ins Mittelfeld geschafft. Immerhin haben ihm die treuen Dienste für die Kollegen die Teilnahme an allen großen Radrundfahrten gesichert: Tour de France, Giro d’Italia und Vuelta. Ein bisschen was bleibt ihm.
Schreck bekennt, dass der Radsport ein massives Dopingproblem hat, doch er relativiert es gleichzeitig auch. Jan Ullrich sei immer ein prima Kamerad gewesen, der nie vergessen habe, ihm für seine Dienste zu danken. Man vergesse auch, wie hart Ullrich trainiert habe, was er für ein Ausnahmetalent gewesen sei. Und die Freiburger Ärzte, das „sind nicht nur die Bösen gewesen, die waren nicht nur für Doping da. Und die Radfahrer waren nicht nur deren Versuchskaninchen, wie immer behauptet wird.“ Er bedankt sich ausdrücklich bei den Ärzten, die ihm 2002 bei einer Gefäß-OP so kompetent geholfen hätten. „An den Sportler wird der Maßstab der höchsten Ethik angelegt, anderswo passiert das kaum“, sagt er kopfschüttelnd. „Der deutsche Radrennfahrer hat im Moment einfach keine Chance.“ Die Öffentlichkeit behandle ihn nicht fair.
Patrick Gretsch ist anderer Meinung. Er glaubt, dass sich der Radsport aus der Krise herausarbeiten kann. Heute geht er bei der Tour de l’Avenir in Nordfrankreich an den Start. Die Etappenfahrt dient zur Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft im schweizerischen Mendrisio Ende September. Er sagt, die Dopingkontrolleure sollen ihn ruhig testen, oft und gründlich, „ich bin ja immer den sauberen Weg gegangen“. Stephan Schreck meint, der Gretsch, der solle so bleiben, wie er ist. Auch als Profi.