: Die Utopie der Krise
Seit Schröders Vertrauens-„Coup“ befindet sich Deutschland in einem demokratischen Vakuum. Daher wächst die Hoffnung auf den einen starken Souverän: Horst Köhler
VON CHRISTIAN SCHNEIDER
Krise heißt wörtlich übersetzt „Entscheidung“, Utopie hingegen etwa „Un-Ort“ oder „Ortlosigkeit“. Diesem Wortsinn folgend scheint unser krisengeschütteltes Land nachgerade in einem utopischen Zustand versunken. Mit der Ankündigung von vorgezogenen Neuwahlen ist die politische Republik zwar nicht wort-, aber auf eigentümliche Weise ortlos geworden. Sie lebt seither im Ausnahmezustand: in einem mit Worten voll gestopften und doch sachlich erschreckend leeren Warteraum der Antizipation.
Welche Dimension diese Krise wirklich hat, kann man einer prototypischen Meldung entnehmen: „Unterdessen kündigte Bundespräsident Horst Köhler an, bei der Beurteilung der Frage, ob der Bundestag aufgelöst werde und es zum Vorziehen der Bundestagswahl komme, streng auf die Einhaltung des Grundgesetzes zu achten.“ Wie bitte? Renommierte Medien – konservative wie linksliberale – verkünden als Topmeldung die Absicht des obersten Repräsentanten und Hüters der Verfassung, er beabsichtige nicht, sie außer Kraft zu setzen? Sicherlich, der Bundespräsident hat das tatsächlich gesagt. Aber was soll er auch sonst sagen? Und was wiederum soll uns die Nachricht eigentlich sagen? Dass wir froh sein können, dass unsere Verfassung keinen Ermächtigungsparagrafen kennt? Dass selbst ein Präsident, der zufälligerweise nicht Jurist ist, sich an die Regularien halten wird? Mir sagt die Nachricht, dass dieses Land angesichts der Krise dabei ist, sich in einen republikanischen Unort zu verwandeln, der mehr und mehr zum Schauplatz demokratischer Obdachlosigkeit wird. Sie gibt etwas von der wachsenden Irrealität wieder, in der sich das politische Deutschland befindet.
Tatsächlich leben wir seit Schröders Vertrauens-„Coup“ in einer „twilight zone“ des politischen Meinungsmarkts, in der beinahe jeder beinahe alles darf. Spekulation ist das Gebot der Stunde. Zugleich wirkt das derzeitige journalistische Echo auf die Krise wie die stereotype Antwort auf die Frage nach dem Namen des Bürgermeisters von Wesel: Die Pointe ist immer schon vorher bekannt. Wer sich die Kommentare anschaut, die sich nicht darauf beschränken, das schier Faktische wiederzukäuen, ist verblüfft von ihrem Ausweichen ins Fiktionale und Unpolitische. Der Spiegel bringt in Serie ungehaltene Wahlkampfreden von (halb)fiktionalen Politikern, die taz beantwortet die vorgezogenen Neuwahlen mit einer schier endlosen Folge von vorgezogenen, mehr oder minder melancholischen Nachrufen auf Rot-Grün, die FAZ, sonst der Psychologisierung nicht unbedingt verdächtig, dringt bis in biografische und psychologische Tiefen der Dramatis Personae. Alles wird vom Hauch des Unwirklichen umweht. Die Mehrzahl der Beiträge zur Lage folgt eher der Logik von Poesiealbumeinträgen als der politischer Analyse: es sind Widmungen, existenzielle Gruß- oder Abschiedsformeln, allgemeine Lebensweisheiten. Es ist, als hätte sich urplötzlich ein Loch in unserer demokratischen Symbolkultur aufgetan, das wie ein Maelstrom alle Realität verschlingt.
Und es sieht verdammt danach aus, als sei das kein bloßer Kollateralschaden. Das politische Deutschland dieser Tage ist ein utopisches Vakuum. Obwohl wir mit Blick auf September in der permanenten Antizipation leben, scheint es nicht zu gelingen, ein antizipierendes Bewusstsein, den Ort der wahren Utopie, zu entwickeln. Buchstäblich allen scheint die Hoffnung abhanden gekommen zu sein, die sich normalerweise gerade in Zeiten der Krise einstellt: und sei es nur die Hoffnung derer, die darauf rechnen können, aus dem Ausnahmezustand Gewinn zu ziehen. Stattdessen wirkt die Republik bei allem hektischen Leerlauf wie im Erschöpfungszustand eingefroren, schlimmer noch: so, als hätte sich etwas von ihrer demokratischen Substanz verbraucht.
Erinnern wir uns: Helmut Kohl war der erste regulär abgewählte Kanzler der Republik. Damit war gewissermaßen das Spektrum der innersystemischen Veränderungsmöglichkeiten ausgeschöpft, das einem parlamentarisch verfassten Gemeinwesen zu Gebote steht, und der demokratische Normalfall hergestellt. Man hat das nicht zu Unrecht als Zeichen einer mit den Jahren stabil gewordenen Republik interpretiert: Die Deutschen hätten nun wohl endgültig das Spiel mit den wechselnden Mehrheiten und Machtkonstellationen und den damit verbundenen Erneuerungszyklen verstanden. Nach der immobilen Adaptionszeit der Adenauer-Ära war jeder Regierungswechsel, jede substanzielle Veränderung der Machtökologie sowohl mit Ängsten als auch mit neuen Hoffnungen und Perspektiven versehen. Die große Koalition von 1966 brachte die Sozialdemokratie ins Regierungsgeschäft und beendete damit ihr politisches Trauma der ewigen Oppositionspartei. Das sozialliberale Bündnis von 1969 erschien vielen wie ein zweiter Demokratiestart nach 1945. Kohls Wende 1982 trat mit dem Anspruch auf, die geistige und moralische Erneuerung einer Republik zu leisten, die nicht nur Konservativen politisch zu stagnieren schien. Der Wechsel von 1998 schließlich war mehr als Ausdruck des Überdrusses am ewig gleichen Kanzlergesicht: Der Reformstau der 16 Kohl-Jahre war unübersehbar geworden, das Projekt eines generationellen Take-over schien nur möglich, wenn sich – so wurde damals geredet – die alten und die neuen sozialen Bewegungen miteinander verbänden. Das Projekt eines ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft war durchaus von zwingender politischer Logik. Und wohl nur in dieser Koalition anzugehen, gleichgültig, wie sehr ihre entzweiten Protagonisten heute versuchen, das Projekt kaputtzureden. Erstaunlich ist nur, wie schnell sich die Aufbruchstimmung der späten Neunzigerjahre erschöpft hat: Schon der 2002er Wahlkampf wurde von Rot-Grün seltsam leidenschaftslos geführt. Ohne Flut und Irakkrieg wäre die Wahl zweifellos verloren gegangen. Und nun?
Derzeit erleben wir bei allen Parteien hektisches Agieren ohne programmatische Strahlkraft. Genau genommen erleben wir die Umkehrung des demokratischen Urprinzips: Wir durchleben eine schwere republikanische Krise. Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte werden in der Doppelzange von wirtschaftlicher Baisse und politischer Hilflosigkeit der Parteien das Ende der demokratischen Regulationsmöglichkeiten und die mit dem Sozialstaatsdenken verknüpfte Illusion spürbar. Selbst die künftigen Sieger wissen, dass ihrem Wahlerfolg kein Triumph folgen wird. Der 18. September wird den aktuellen hektischen Leerlauf beenden, aber nicht die entstandene politische Leere füllen. Was danach kommt, wird wahrscheinlich den Ort und die Möglichkeiten des Politischen in Deutschland noch mehr einschränken.
Vor diesem Hintergrund hat die scheinbar banale Meldung, dass der Präsident eine verfassungskonforme Entscheidung treffen wird, einen leicht unheimlichen Unterton. Der Wunsch nach dem Gegenteil hat sich längst klammheimlich an die Stammtische herangeschlichen. Nein, es ist nicht der altbekannte rechte Ruf nach dem „starken Mann“, der den gordischen Knoten einfach durchschlagen wird. Aber der Wunsch nach souveräner Entscheidung jenseits des Parteiengerangels gewinnt zunehmend an Boden. Er hat sich – auch das ist neu in dieser bundesdeutschen Republik – erstmals auf die Figur ihres obersten Repräsentanten verschoben. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil Horst Köhler der erste Bundespräsident ist, der dem kollektiven Wunsch nach autoritativer landesväterlicher Patronage in Krisenzeiten mit ökonomischem Sachverstand entgegenkommt und politisch Stellung bezieht.
Die Tür, die Schröder mit seiner getürkten Vertrauensfrage geöffnet hat, führt in einen anderen Raum als erwartet. Die Diskussion um die verfassungsgerechte Lösung der Regierungskrise läuft geradewegs auf die Frage nach dem Ort der Souveränität zu – mit noch schwer abwägbaren Konsequenzen. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, hatte der rechtskonservative Staatsrechtler Carl Schmitt am Vorabend des NS-Staats formuliert und dem Reichspräsidenten die Rolle eines „Hüters der Verfassung“ zuerkannt; um nach vollzogener Wende lapidar zu formulieren: „Der Führer schützt das Recht.“ Nein, davon sind wir, gottlob, um Welten getrennt. Nichts wäre unsinniger als wohlfeiler Alarmismus. Auch wenn die Krise möglicherweise neuen politischen Konstellationen Spielräume schafft – einen rechtsradikalen Ruck wird es nicht geben.
Wohl aber stellt sich die analytische Aufgabe, hinter den Änderungen in der Geografie der Parteienlandschaft auch die der kollektiven Ängste und Hoffnungen zu studieren. Denn sie werden die zweite deutsche Republik wesentlich bestimmen. Hinter dem unverkennbaren Autoritätsverlust der Regierung und des Politischen überhaupt nehmen wir im Wartesaal des Ausnahmezustands einen Umbau des demokratischen Unterbaus wahr.
Der wachsende Wunsch nach souverän-autoritativer Entscheidung findet seinen noch unbegriffenen Reflex in der Diskussion um die Rolle des Bundespräsidenten. Die offenkundige Banalität der Nachricht, er werde verfassungsgemäß handeln, legt etwas von dem frei, was niemand zu schreiben wagt, aber immer mehr sich wünschen.
Tatsächlich ist Horst Köhler, wirkungsvoll flankiert von einem Teil der Medien, zum Adressaten übersteigerter Hoffnungen geworden – ein Phänomen von bestechender Ambivalenz: Auf der einen Seite ein Zeichen für die gelungene Einfriedung politikverdrossenen Unbehagens ins parlamentarische System; auf der anderen Ausdruck eines Autoritätsbedürfnisses, das dieses System von innen her verändern könnte. Das wäre weder das Ende der Krise noch eine wirklich wünschbare Utopie.