: Gestrandet in Patagonien
RÜCKBLENDEN Eine große Familiengeschichte, in der sich das Erbe des 20. Jahrhunderts spiegelt: Germán Kratochwils Roman „Scherbengericht“
VON DIRK KNIPPHALS
Diesen Roman habe ich mit Skepsis zu lesen begonnen. Man glaubt halt nicht in jedem Fall an dieses Fontane-Märchen von spät berufenen Autoren, die nach einem ausgefüllten Arbeitsleben noch mit dem Schreiben von Romanen anfangen.
Germán Kratochwil hat genau das getan. Im Netz findet sich 1938 als Geburtsjahr. Als Kind ist er von Österreich nach Argentinien ausgewandert. 1973 wurde er in Hamburg zum Sozialwissenschaftler promoviert. Dann arbeitete er für internationale Organisationen für soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Lateinamerika. Und was man diesem Google-Wissen nach der Lektüre seines spät vorgelegten Romandebüts „Scherbengericht“ aller anfänglichen Skepsis zum Trotz hinzufügen kann, ist: Germán Kratochwil ist ein verdammt guter Erzähler.
Die Beherrschung des erzählerischen Handwerks nimmt einen als Leser als Erstes für diesen Roman ein. Erzählt wird er aus gleich einem halben Dutzend Perspektiven; er handelt von einer weit verzweigten Familien- und Freundesschar, die ein Auswandererschicksal verbindet und die – es ist Silvester 1999/2000 – zum 90. Geburtstag der Familienpatriarchin auf einem großen Bauernhof in Patagonien, wohin es sie alle verschlagen hat, zusammenkommt. Jede Erzählperspektive hat ihre eigene Sprachmelodie und Erzählfarbe, in technisch einleuchtend inszenierten Rückblenden wird dabei von hin und -hergeworfenen Schicksalen berichtet.
Patagonien also. Der Roman beginnt mit einer Autofahrt durch diese wilde, weite Landschaft, aber in einem Telefongespräch hat man, geschickter erzählerischer Kniff, schon mal die wichtigsten Figuren der Gruppe zusammen. Ganz nebenbei erfährt man etwas über die Kolonisierungsgeschichte dieser Südprovinz Argentiniens, etwa durch walisische Auswanderer. Plastisch erzählt Kratochwil von aktuellen Konflikten mit den Mapuche-Indianern, die ihrerseits keineswegs „Ureinwohner“ sind, sondern auch eingewandert, nur ein paar Jahrhunderte vorher. Es gibt erzählerische Glanzstücke, etwa eine hinreißend erzählte Episode, in der Martin Holberg, der Sohn der Jubilarin, und seine psychisch angeschlagene Tochter Katha erst einmal Whale Watching betreiben. Und dezent, aber wirksam zusammengehalten wird das alles durch das Motiv eines sanften Schneefalls, der in dieser Jahreszeit – Silvester fällt auf der Südhalbkugel in den Sommer – ungewöhnlich ist.
In den Rückblenden spielt dann natürlich die Nazizeit eine große Rolle. Kratochwil zeichnet dieses Patagonien als einen auf der Oberfläche idyllischen, darunter aber durch tiefe Gräben zerrissenen Ort. Jüdische Exilanten fanden hier eine neue Heimat, die mit ihren Bergen und Seen, fruchtbaren Landstrichen und weiten Tälern sogar an die österreichische Herkunft erinnerte. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann eben auch die fliehenden Nazis. „Wie ungerecht unsere doppelte Last: zuerst Vertreibung aus der Heimat oder Tod, dann Heimsuchung durch die Täter“ – so lässt Kratochwil einmal eine seiner Figuren sinnieren. Kratochwil erzählt sowohl aus der Opfer- wie aus der Täterperspektive.
Die Opfer und die Täter, sie kommen beide zum Finale dieses Romans unter einer ausladenden Linde beim Familienfest zusammen. Es gibt auf patagonische Art gegrilltes Lamm und österreichischen Kipflerkartoffelsalat sowie Dobostorte. Am Schluss übernimmt sich Germán Kratochwil erzählerisch dann doch etwas: Episoden über eine Psychosekte, die in der Nähe ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat, sowie ein Hausherr, der gerne Fidel-Castro-Reden zitiert, spielen hinein. Aber auch hier ist immer noch großartig, wie es ihm gelingt, das so Schreckliche dieser Situation ebenso darstellen wie die Intention (fast) aller Beteiligten, sie zu überspielen. „Jeder muss den anderen ertragen, so wie er ist, so grauenhaft es vielleicht sein mag“, sagt Elias Königsberg, der greise Psychoanalytiker in der Runde. Auch solche Zumutungen gehören zum Erbe des 20. Jahrhunderts.
Zurück bis ins Wien der Kaiserzeit reichen die Rückblenden. Kratochwil holt in ihnen weit aus, sicherlich sind viele Familienerzählungen in sie eingeflossen. Toll sind die historischen Episoden eingebaut. Probleme kann man zunächst mit der Perspektive der jüngeren Generation haben; sie wird als sehr labil beschrieben. Doch allmählich zeichnet sich darin das schwere Gepäck ab, das den Nachgeborenen durch die Kriegs- und Vertreibungsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern auferlegt wird. „Scherbengericht“ ist ein schöner Roman, die Lebenserfahrungen des 20. Jahrhunderts sorgfältig gestaltend und unbedingt lesenswert.
■ Germán Kratochwil: „Scherbengericht“. Picus Verlag, Wien 2012, 312 Seiten, 22,90 Euro