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Archiv-Artikel

Ein bisschen Frieden

GLÜCK Eine Schwedin gewinnt den Eurovision Song Contest, den nächsten richtet ihre Heimat aus. Keine neue Debatte über Menschenrechte also. Dennoch muss sich etwas ändern

VON JAN FEDDERSEN

Der mediale Jubel über diese Geste fiel deutlich inbrünstiger aus als der anerkennende Respekt vor der Siegerin des Abends. Als Anke Engelke am Sonnabend in Hamburg das deutsche Abstimmungsergebnis beim Euro Vision Song Contest mitteilte, sagte sie: „Heute Abend konnte niemand für sein eigenes Land abstimmen. Aber es ist gut, abstimmen zu können. Und es ist gut, eine Wahl zu haben. Viel Glück auf deiner Reise, Aserbaidschan! Europa beobachtet dich!“ Der BBC-Kommentator Graham Norton sekundierte: „Bemerkenswert!“ Engelkes Spruch verlor sich im Trubel um die spätere Siegerin Loreen, war aber eindeutig. Der Kommentator des aserbaidschanischen Gastgebers Ictimai TV übersetzte ihn daher gar nicht erst.

Engelkes Botschaft an etwa 120 Millionen Menschen in 45 Ländern der Eurovision war einerseits ein Reflex auf die Debatte über Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan, speziell auf die Verhaftungen und die Gewalt gegen Demonstranten in Baku vor dem Finale des 57. Eurovision Song Contest. Andererseits wirkt ihr Vers europäisch, denn er wird momentan in alle demokratischen Länder im Bereich der Senderkette Eurovision weitergetragen. Die schweizerische wie österreichische Presse, auch Medien in Skandinavien lobten sie für dieses Stück Politcharme: Die European Broadcasting Union (EBU) in Genf, Dachorganisation des Song Contest, wird sich verhalten müssen – und sei es, indem sie einen Impuls von Courage zurückweist.

Schon die haushoch siegende Loreen mit ihrem Titel „Euphoria“ hat sich nichts verbieten lassen. Wenige Tage vor dem Finale besuchte sie Menschenrechtler in Bakus Innenstadt – und ließ sich Fotografien von Verhaftungen und pulverisierte Häuser, die für das Gelände des ESC an der Crystal Hall planiert worden waren, zeigen. Tatsächlich wird die EBU nicht umhinkönnen, die Regeln ihres Popfestivals zu ändern.

Bislang mussten alle Eurovisionsländer spätestens ein halbes Jahr vor der ESC-Woche schriftlich erklären, dass sie teilnehmen werden. Eine Zusage beinhaltet nicht allein die Erlaubnis, sondern auch die Pflicht, im Falle eines Sieges der Gastgeber für den folgenden Contest zu sein. Bereits Aserbaidschan musste Zusätzliches garantieren: erleichterte Visaverfahren, Garantien von Freizügigkeit während der Tage des ESC für alle ausländischen Gäste, ausdrücklich auch eine, die schwulen ESC-Fellows von jedem Druck entlastet, als offen Homosexuelle behelligt zu werden. Das allein war ein Fortschritt.

Noch 2009 vor dem ESC in Moskau gab es diese politischen Noten des Gastgeberschutzes nicht – damals hatten Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International und Human Rights Watch den Song Contest noch nicht für ihr Campaining entdeckt. Der am Rande des Festivals geplante Christopher Street Day wurde von paramilitärischen Einheiten mit drakonischer Gewalt und deren Androhung zerstört.

Die Debatte über die Demokratiedefizite eines ESC-Gastgeberlandes könnte eine Folge zeitigen: Jedes teilnehmende Land könnte versprechen, sich einem Monitoring zu unterziehen. Etwa: Im Falle eines Sieges nicht allein das Event zu organisieren und zur Hälfte zu finanzieren, sondern ebenso, mindestens während der zwei Contest-Wochen auf alle Gewalteinsätze zu verzichten, einerlei ob die von Polizei oder Paramilitärs. Die EBU hat inzwischen Marktmacht genug, für diesen Zeitraum quasi eurovisionären Frieden zu verlangen, vergleichbar dem olympischen.

Mit dem Sieg von Loreen ist die EBU für ein Jahr aus dem Schneider. Schweden, Musterland an Demokratie und Freundlichkeit für Schwule und Lesben, wird ein klassischer ESC werden, vermutlich in der bis dahin größten Arena der Eurovision. Aber erledigt hat sich die Menschenrechtsdebatte nicht.

Hinter Loreen belegten Russlands trötend-singende Großmütter und Serbiens Zeljko Joksimovic die nächsten Plätze. In beiden Ländern sind mehr oder ähnlich heftige Menschenrechtsverletzungen zu beklagen wie in Aserbaidschan.