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Archiv-Artikel

zehn jahre verhüllung Die heiteren Tage von Berlin

Auf einmal war alles heiter. „Selbst die berüchtigt übellaunigen Berliner“, staunte der Spiegel, „zeigen sich seither wundersam verwandelt: flanierend, lächelnd, kosmopolitisch.“ Die spanische Tagezeitung El País mutmaßte gar, dass in jenen Tagen der Grundstock für ein lockeres Deutschland gelegt worden sei, „das nicht mehr ständig mit zusammengebissenen Zähne durch die Welt geht“.

Kommentar von UWE RADA

Das heitere Initiationserlebnis, das da beschrieben wurde, waren die zwei Wochen im Juni und Juli 1995, in denen Christo und Jeanne-Claude den Reichstag verhüllt und den Berlinern eine wunderbare Kulisse zum Einanderfinden gegeben hatten. Fünf Millionen Menschen picknickten, feierten, tanzten, fotografierten und liebten sich gar vor dem Reichstag, und nicht nur Le Monde wunderte sich über die „ungewohnt verspielte Atmosphäre“ in der Stadt „mit ihrem manchmal etwas düsteren Flair“.

Was ist davon geblieben? Warum ist es ausgerechnet die Reichstagsverhüllung, der man bis heute die Insignien der Heiterkeit verleiht? Warum sind es nicht die fröhlichen Berliner und Touristen, die man heute allenthalben im Regierungsviertel findet – zwischen Reichstag und Paul-Löbe-Haus, am Spreeuferweg, in der Reichstagskuppel, am Bundespressestand, und, auch da, am Holocaust-Mahnmal? Ist der verhüllte Reichsttag heute nicht überall in der Stadt?

Was die Erinnerung an die Zeit von Christo und Jeanne-Claude so einzigartig macht, ist ihr politisch-kultureller Kontext, den wir gerne vergessen. Wer erinnert sich noch gerne daran, dass Christo und Jeanne-Claude 20 Jahre Überzeugungsarbeit leisten mussten, bevor der Bundestag sein Placet gab. Und wer schämte sich nicht angesichts der apodiktischen Weigerung des damaligen Bundeskanzlers, es seinen Untertanen gleichzutun. „Ich habe den verhüllten Reichstag nicht besichtigt“, erklärte Helmut Kohl mit ernster Miene, „und ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun.“

Es waren postfeudale Gesten wie diese, die den Zeitgeist charakterisierten und damit auch das Staunen über die plötzliche Heiterkeit im Volke. Im hartnäckigen Weigern Kohls und in den Pilgerströmen der Berliner und Touristen zeichnete sich bereits die Götterdämmerung des Patriarchen ab und die Wahl der rot-grünen Bundesregierung. 1998 wurde vollendet, was 1995 begonnen hatte: der Abschied von der Bonner und die Ankunft in der Berliner Republik.

Ist es eine Ironie der Geschichte, dass nun, da wir der Ereignisse vor zehn Jahren gedenken, eine neue politische Götterdämmerung begonnen hat? Wie wird die Neue Berliner Republik aussehen? Nun, Angela Merkel hat sich vor der Bundestagsentscheidung über die Reichstagsverhüllung gedrückt. Wie der Historiker Michael S. Cullen, neben Christo und Jeanne-Claude einer der Initiatoren des Projekts, gestern mitteilte, hat die CDU-Abgeordnete am 25. Februar weder mit Ja, Nein noch Enthaltung gestimmt. Sie war nicht einmal entschuldigt.