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Archiv-Artikel

Die streitbare Witwe

MENSCHENRECHTE Obwohl der indonesische Präsident Aufklärung im Fall Munir versprochen hatte, sind die Verantwortlichen auf freiem Fuß. Sie werden beim Geheimdienst vermutet

Suciwati Munir

■  7. September 2004: Suciwatis Mann Munir Said Thalib stirbt im Flugzeug auf dem Weg nach Amsterdam. Laut Autopsie befindet sich in seinem Körper eine tödliche Dosis Arsen.

■  24. November 2004: Suciwati trifft den indonesischen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono, der verspricht, eine unabhängige Untersuchungskommission für den Fall Munir einzusetzen.

■  9. August 2006: Suciwati gründet die Organisation „Solidaritätsnetzwerk der Opfer für Gerechtigkeit“. Gemeinsam fordern die Mitglieder jeden Donnerstag mit einer Kundgebung vor dem Präsidentenpalast in Jakarta, die Straflosigkeit für die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen zu beenden. (kel)

AUS JAKARTA ANETT KELLER

„Mit 42 gehen wir in Rente. Dann ist unser Land eine Demokratie und wir können uns ausruhen.“ So haben sie gescherzt früher, die Menschenrechtsaktivistin Suciwati und ihr Mann Munir Said Thalib. Damals, Anfang der 90er-Jahre, als beide sich für die Rechte von Arbeitern starkmachten, war Indonesien noch im festen Griff der Suharto-Militärdiktatur. 1998 wurde Suharto gestürzt. Seitdem entwickelte sich Indonesien mit seinen rund 240 Millionen Einwohnern zur drittgrößten Demokratie der Welt.

Doch die Schatten der Vergangenheit sind lang. Am heutigen Montag ist Munirs fünfter Todestag. Indonesiens prominentester Menschenrechtler und Träger des alternativen Nobelpreises wurde am 7. September 2004 ermordet, zwei Wochen vor den ersten direkten Präsidentschaftswahlen in seiner Heimat. Es war ein offenbar von langer Hand geplanter Mord, perfide ausgeführt wie in einem Kriminalroman. Munir wurde von einem Piloten der staatlichen Fluglinie Garuda mit Arsen vergiftet, als er auf dem Weg von Jakarta nach Amsterdam war.

Zweifelhafter Freispruch

Fünf Jahre später sitzt Suciwati im Garten von Tifa, einer Stiftung zur Demokratieförderung, wo sie das Programm für Menschenrechte verantwortet. Die schlanke Frau mit dem dichten kurzen Haar und den großen dunkelbraunen Augen erzählt davon, wie sie Munir kennen lernte, bei einer Diskussion über Arbeiterrechte. Vor allem seine Hartnäckigkeit habe sie begeistert, sein Durchhaltevermögen. Wie er nächtelang durcharbeitete und kilometerweit nach Hause lief, weil das Geld für den Bus nicht mehr reichte. „Wenn er für eine Sache kämpfte, dann gab er einfach alles.“

Unermüdlich hatte Munir die Verbrechen der Vergangenheit angeprangert und vor allem auf die Rolle des Militärs bei Menschenrechtsverletzungen hingewiesen. Der Jurist hatte zunächst bei der Menschenrechtsorganisation YLBH Opfer vertreten, später gründete er die „Kommission für die Verschwundenen und die Opfer von Gewalt“ (Kontras). Mit seinen akribischen Untersuchungen und dem lautstarken Einsatz für die Opfer hatte sich Munir im In- und Ausland Ansehen verschafft, aber auch viele Feinde. Drohungen hatten er und seine Familie häufig erhalten. Als Suciwati die Nachricht von seinem Tod bekam, war sie sofort sicher, dass eine natürliche Todesursache nicht in Frage kam. Sie zeigte, was Munir meinte, als er einst sagte: Er sei vielleicht mutig, aber er sei noch gar nichts gegen seine Frau. Ihr Engagement und die Unterstützung zahlreicher weiterer Menschenrechtler bewirkten, dass Staatspräsident Susilo Bambang Yudhoyono eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzte.

Die „Anna Politkowskaja“ Indonesiens wird Munir hier manchmal genannt. Wie im Fall der ermordeten russischen Journalistin waren jene, die den Mord ausführten, schnell benannt. Der Pilot Pollycarpus Budihari Priyanto, der Munir die tödliche Dosis Arsen verabreicht hatte, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die mutmaßlichen Auftraggeber werden in den Reihen des indonesischen Geheimdienstes BIN vermutet.

Bislang ist in Indonesien kein einziger ranghoher Militär wegen Menschenrechtsverstößen verurteilt worden, nicht wegen der Entführung und Folter von Dissidenten, nicht wegen Kriegsverbrechen in Papua, Aceh oder Osttimor. Dass der ehemaliger Vizechef des BIN, Muchdi Purwoprandjono, schließlich angeklagt wurde, den Mord an Munir in Auftrag gegeben zu haben, war eine Sensation und galt vielen als Zeichen, dass die alten Mächte nicht unantastbar sind, im neuen, demokratischen Indonesien.

Muchdi, Exgeneralkommandeur der Heeresspezialkräfte Kopassus, hätte ein starkes Motiv gehabt: Er war 1998 unter anderem nach Recherchen von Munir vom Dienst suspendiert worden, weil die Soldaten, die er damals befehligte, Studentenaktivisten entführt hatten.

Doch Muchdi wurde Ende letzten Jahres nach einem fragwürdigen Prozess freigesprochen: Belastungszeugen erinnerten sich plötzlich nicht mehr an ihre zuvor gemachten Aussagen. Wichtige Indizien, wie Aufnahmen von mehreren Dutzend Telefonaten, die zwischen den Anschlüssen des Attentäters Pollycarpus und Muchdi vor und nach dem Mord geführt wurden, gingen nicht in die Beweisführung ein. Einem Plan von Geheimdienstlern, auf den die unabhängige Untersuchungskommission gestoßen war und der mehrere Mordvarianten an Munir durchspielte, wurde nicht nachgegangen. Exgeheimdienstchef A. M. Hendropriyono ignorierte sämtliche Vorladungen der Kommission und verklagte stattdessen ihre Mitglieder wegen Verleumdung.

Juristisch gibt es nun nur noch die Möglichkeit, dass der Generalstaatsanwalt den Fall noch einmal aufrollen lässt. Darauf hoffen alle, die sich für die Aufklärung des Mordes an Munir einsetzen. Darauf hofft auch Suciwati.

Erst Trauer, dann Hass

Sie ist um die Welt gereist, hat vor Parlamenten gesprochen, Menschenrechtsbeauftragte getroffen, alle haben ihr Unterstützung versprochen, die UNO, die USA, die EU. „Es geht doch nicht nur um Munir“, sagt sie. „Es geht um all die ungeklärten Verbrechen der Vergangenheit. Es geht darum, dass unsere Kinder mal in einem Land leben, das wirklich demokratisch ist.“

Ihre beiden Kinder. Wie erklärt man ihnen, dass der eigene Vater umgebracht wurde? Ihr Sohn, damals in der ersten Klasse, habe immer gesagt, Papa käme doch in den Ferien zurück. Und gefragt, was alle diese Beileidskarten bedeuteten, die sie bekamen. Mit der Gewissheit kam die Trauer. „Eines Abends fand ich meinen Sohn weinend im Bett“, erinnert sich Suciwati. „Papa fehlt mir“, sagte er. „Ja, mir fehlt er auch“, habe sie gesagt. „Wir dürfen traurig sein, wir lieben ihn schließlich. Wenn er dir fehlt, dann bete, denke an ihn und wünsch ihn dir in deine Träume.“ Am nächsten Morgen strahlte ihr Sohn und erzählte, er habe im Traum mit Papa Fußball gespielt.

Später kam der Hass. Als der Sohn mit zehn Jahren die Angeklagten im Gerichtssaal sah, sagte er: „Ich bringe sie alle um.“ Er sei furchtbar wütend gewesen, sagt Suciwati. Da habe sie ihn gefragt, wie er sich fühle, wenn er so wütend sei. „Hilflos“, habe er gesagt, „und schwach.“ „Siehst du“, habe sie geantwortet, „wir dürfen aber nicht schwach sein.“

Sie empfinde keinen Hass, sagt Suciwati. Nicht auf den Mörder. Nicht auf die Hintermänner. Trauer, ja. Trauer müsse man zulassen. Aber sie dürfe einen nicht auffressen.

So, wie sie da sitzt, ganz ernst und ruhig, klingt das beinahe Unmögliche ganz einfach. Jeder müsse eben seine Wahl treffen, ist ihre Antwort auf die Frage, ob sie nicht Angst habe, sie oder ihre Kinder könnten ebenfalls zur Zielscheibe werden. „Wenn wir beginnen, uns zu verstecken, dann haben sie schon gewonnen.“

Deshalb erinnert sie den indonesischen Präsidenten, der gerade mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt wurde, an seine eigenen Worte. Susilo Bambang Yudhoyono hatte einst gesagt, Munirs Fall wäre ein Test dafür, wie weit Indonesien sich demokratisiert habe. Der Präsident könnte etwas tun, sagt sie. Er könnte eine weitere Kommission einsetzen, um die vielen ungeklärten Fragen zu untersuchen. „Dass die größten Verbrecher in unserem Land unangetastet bleiben, das wird unsere Demokratie kaputt machen“, sagt Suciwati.

Jeden Donnerstagnachmittag braust sie auf dem Rücksitz eines Motorradtaxis von ihrem Büro im Süden Jakartas ins Zentrum der Stadt. Während sie eilig noch ein paar SMS an andere Aktivisten tippt, schlängelt sich das Moped durch den dichten, stinkenden Verkehr, der sich erst auf einer vierspurigen Prachtstraße wieder lichtet. Suciwati fährt vorbei am Obersten Gericht, das im Juli den Freispruch für den Ex-Geheimdienst-Vize Muchdi bestätigte.

Juristisch gibt es nun nur noch die Möglichkeit, dass der Generalstaatsanwalt den Fall neu aufrollen lässt

Am Platz vor dem Nationalmonument mit der goldenen Fackel, gegenüber dem Präsidentenpalast, macht sie halt. Hier stehen schon Dutzende von Menschen. Sie tragen Transparente und spannen schwarze Schirme auf, auf denen weiße Schriftzüge an die vielen ungelösten Menschenrechtsverletzungen erinnern.

Witwe trifft Witwe

Hier wird Suciwati auf einmal zu einer von ganz vielen. Etwa 100 Opfer von Menschenrechtsverletzungen stehen hier, als schweigende Mahnung, die Geschichte nicht zu vergessen. Unter ihnen ist die 63-jährige Ruyati Darwin, deren Sohn bei den Maiunruhen 1998 unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Unter ihnen ist auch der 80-jährige Anwar Umar. Zwölf Jahre war er im Gefängnis, nachdem der prowestliche Suharto 1966 nach einem Militärputsch an die Macht kam und hunderttausende von vermeintlichen Kommunisten umgebracht oder inhaftiert wurden. Bis heute streitet er für seine Rehabilitierung und für seine Rente.

„Es sind diese Menschen, die mir die Kraft geben, weiterzumachen“, sagt Suciwati. Dass manche von ihnen schon so lange für ihre Rechte kämpfen müssten, zeige, wie stark die Hegemonie von Militär und Geheimdienst sich auch in einer formalen Demokratie fortsetzen könne, sagt sie.

Diesmal sind zur Donnerstagskundgebung auch Menschenrechtler aus dem Ausland gekommen, die Munirs fünften Todestags gedenken. Sie kommen aus Nepal, von den Philippinen, aus Bolivien, tragen schwarze T-Shirts, auf denen Munir zu sehen ist, in kämpferischer Pose, in der einen Hand ein Mikrofon, die andere zur Faust geballt.

Ruth Llanos aus Bolivien geht ans Mikrofon: „Ich war sehr jung, als ich Witwe wurde“, sagt Llanos, deren Mann vor dreißig Jahren im Zuge der Geheimdienstoperation Plan Condor ermordet wurde. „Ich kann dir nur sagen, dieser Kampf ist schwer und er dauert lang. Aber unsere Kinder werden ihn fortsetzen.“ Dann erzählt Llanos von ihrer Tochter, die heute Botschafterin Boliviens in Genf ist. Jubel brandet auf. Llanos geht auf Suciwati zu, die beiden Frauen umarmen sich.

Nächstes Jahr wird Suciwati 42 Jahre alt. Dann in Rente zu gehen, scheint derzeit ausgeschlossen.