„Wir brauchen Stolz ohne Überheblichkeit“

Der alte bundesdeutsche Traum, die Nation in Europa entsorgen zu können, ist gescheitert. Deshalb brauchen die Deutschen wieder mehr Nationalbewusstsein – und die SPD soll sich diese Forderung zu Eigen machen

taz: Herr Bahr, was sollten Ihrer Ansicht nach die zentralen Forderungen der SPD im anstehenden Wahlkampf sein?

Egon Bahr: Die grundsätzliche Fortsetzung der eingeleiteten Reformpolitik, das heißt das Eintreten für die Agenda 2010. Also nicht wackeln. Ich würde eine Ergänzung für nötig halten, einen Gerechtigkeitsausgleich, der die wirklich Reichen belastet. Millionäre, also Leute, die eine Million Euro im Jahr ausgeben, kommen nicht an den Bettelstab, wenn sie nur 500.000 Euro ausgeben können.

Warum hat es diesen Ausgleich nicht vorher gegeben?

Das bedaure ich in doppelter Hinsicht: Einmal weil es ihn nicht gegeben hat, und zum anderen weil ich die Begründung dafür nicht kenne.

Fürchten Sie nicht, dass die SPD ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommt, wenn sie ausgerechnet jetzt vor den Wahlen plötzlich eine Millionärssteuer fordert?

Es muss doch möglich sein, dass man etwas Wichtiges fordert, auch wenn es bisher gefehlt hat.

Aber wer derlei in den letzten Jahren verlangte, wurde als altlinker Träumer verspottet.

Dieser Spott war falsch.

Gibt es weitere Wahlbausteine, die Sie Ihrer Partei empfehlen würden?

Ja. Ich halte es für ein zentrales Element, sich auf die nationale Rolle des Landes zu konzentrieren. Es ist nicht im Bewusstsein unserer Bevölkerung verankert, dass wir isoliert sind, wenn wir weiter von einem europäischen Staatenbund oder Bundesstaat träumen wie in den vergangenen Jahrzehnten. Dieser Traum war verständlich in der Hoffnung, die Lasten der nationalen Vergangenheit loszuwerden. Wir haben uns aber in den Verhandlungen über den Verfassungsvertrag der Auffassung aller anderen 24 Partner angeschlossen, die die Zukunft Europas im Nebeneinander der Nationalstaaten sehen. Wir brauchen also ein Selbstverständnis über unsere Rolle als Nationalstaat.

Ist das die Absage an die politische Union der EU?

Nein, überhaupt nicht. Das ist ein anderes Thema. Das wird entschieden werden zwischen dem britischen Modell einer Ausweitung des gemeinsamen Marktes und dem Konzept der Selbstbestimmung Europas als international handlungsfähiger Einheit.

Wenn es also keine Absage an die politische Union der EU ist, was meinen Sie dann mit nationaler Rolle?

Wir haben die gleichen Rechte wie jeder andere Nationalstaat, die eigenen Interessen zu definieren und ihnen zu folgen.

Gibt es irgendeine bundesdeutsche Regierung, die das jemals nicht getan hat?

Wir haben in der Vergangenheit zum Beispiel in allen wichtigen Fragen selbst dann die US-amerikanische Position mit vertreten, wenn wir Bedenken hatten, ob das richtig ist. Die erste große Ausnahme war der Irakkrieg.

Das allein ist noch keine Antwort auf die Frage, warum Sie eine Rückbesinnung auf die nationale Frage fordern.

Damit sind wir beim zweiten Punkt. Man muss ein guter Deutscher sein, um ein guter Europäer sein zu können. Europa ist noch keine Heimat. Diese Einheit, in der man sich zu Hause fühlt, ist die Nation, und sie wird es noch sehr lange bleiben. Und darum brauche ich ein – bei uns derzeit unterentwickeltes – Nationalgefühl, wie Willy Brandt es formuliert hat: Stolz ohne Überheblichkeit.

Wozu soll dieser Stolz gut sein? Ganze Generationen von Deutschen sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorzüglich ohne Nationalstolz ausgekommen. Warum muss der jetzt wieder entwickelt werden?

Weil der europäische Traum ein Traum geblieben ist, und vor allem deshalb, weil man die Nation nicht den Rechten überlassen darf.

Dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der jetzt für ein Linksbündnis antritt, wird unterstellt, mit Äußerungen über so genannte Fremdarbeiter am rechten Rand fischen zu wollen. Fürchten Sie nicht, dass Ihnen dasselbe vorgeworfen wird, wenn Sie die Wiederbelebung des Nationalstolzes fordern?

Das wäre das Gleiche, als ob man Willy Brandt nachträglich vorwerfen würde, er sei ein Nationalist gewesen. Ich trete für nichts anderes ein als dafür, sich zurückzubesinnen auf das, was Brandt in diesem Zusammenhang alles schon gesagt und wie er gehandelt hat.

INTERVIEW: BETTINA GAUS