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Archiv-Artikel

Der westöstliche Orhan

Orhan Pamuk schreibt über die Türkei zwischen östlicher Tradition und westlicher Moderne. Er hat sich damit Feinde gemacht. Aber auch Freunde

VON TOBIAS RAPP

So unterschiedlich können Lektüren sein. Wenn Orhan Pamuk am 23. Oktober zur kommenden Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, wird ein Schriftsteller geehrt, „der wie kein anderer Dichter unserer Zeit den historischen Spuren des Westens im Osten und des Ostens im Westen nachgeht“. Mit diesen Worten begründete der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gestern seine Wahl. Pamuk sei einem Begriff von Kultur verpflichtet, „der ganz auf Wissen und Respekt vor dem anderen gründet“.

Das dürften die nationalistischen Kreise in der Türkei anders sehen: Knapp fünf Monate ist es her, dass Pamuk so nachhaltig des Vaterlandsverrats bezichtigt wurde, dass er sich gezwungen sah, für eine Weile unterzutauchen. Dabei hatte Pamuks großer Roman „Schnee“, als er Anfang 2002 in der Türkei erschien, vor allem deshalb für Aufsehen gesorgt, weil sich hier einer der bekanntesten Schriftsteller des Landes von seinen historischen Sujets ab- und der Gegenwart zugewandt hatte. Es brauchte die Übersetzung ins Deutsche und ein Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger, um aus dieser Hinwendung einen Skandal zu machen. „Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen“, sagte Pamuk damals.

Islam und Moderne

Anzeigen wegen Landesverrats waren die Folge, in einem anatolischen Landkreis wurden Pamuks Bücher aus den Bibliotheken entfernt. Die Kritiker hätten es einfacher haben und einen Blick in das Buch riskieren können – alle paar Seiten kommt der Protagonist von „Schnee“ an leeren Häusern vorbei, die einmal Armeniern gehört hatten. Und das Foltern von Kurden gehört für die ortsansässigen Autoritäten zum Tagesgeschäft.

Die Spannung zwischen Islam und Moderne, die Verbindung orientalischer Erzähltraditionen mit Stilelementen der westlichen Literatur und das Abarbeiten an der vielgestaltigen Tradition des Osmanischen Reichs sind die großen Themen des 53-jährigen Orhan Pamuk. Geboren in Istanbul als Fabrikantenkind, studierte er Architektur und Journalismus und lebte eine Zeit lang in New York. Während seine Romane „Die weiße Festung“, „Das schwarze Buch“, „Das neue Leben“ und „Rot ist mein Name“ diese Themen immer aus der sicheren Entfernung lang vergangener Epochen verhandelten, wendet sich Pamuk mit „Schnee“ der Gegenwart zu: dem Erbe des Kemalismus.

Am Beispiel des Wohnzimmers seiner Eltern beschreibt Pamuk in seiner autobiografischen Erzählung „Pamuk Apartments“, die er vor gut einem Jahr im New Yorker veröffentlichte, in einem wunderbaren Bild, wie diese speziell türkische Variante der Westbindung ihn prägte. Jede bürgerliche Familie Istanbuls habe damals ein Wohnzimmer gehabt, eingerichtet nach europäischem Vorbild: mit Glasvitrine, Sitzecke und einem Klavier. Es habe sich aber nie jemand hineingesetzt. Der Raum richtete sich einzig und allein an hypothetische Besucher als Zeichen der eigenen Modernität.

Nun mögen die türkischen Eliten dem Land mit dem Kemalismus seine Säkularisierung und die Westbindung tatsächlich einmal aufgezwungen haben. Doch 66 Jahre nach Atatürks Tod sind sie der Türkei so tief ins Selbstverständnis eingesunken, dass selbst die Traditionen, die dem scheinbar entgegenlaufen, sich nur auf seiner Basis artikulieren können. Das ist das Thema von „Schnee“, einem Roman, der davon handelt, wie der Dichter Ka in einem kalten Winter Mitte der Neunzigerjahre von einer liberalen Zeitungsredaktion nach Ostanatolien geschickt wird, um eine rätselhafte Selbstmordwelle unter Mädchen zu recherchieren, die offenbar mit einem Konflikt über das Tragen des Kopftuches zusammenhängt.

Ganz so einfach ist es natürlich nicht, und während kemalistische Paramilitärs in dem eingeschneiten Städtchen putschen, geraten die Selbstmorde auch rasch in den Hintergrund. Doch das Interessante an „Schnee“ ist, wie Pamuk das Bild einer Türkei konstruiert, in der sich selbst die Gegnerschaft zum Westen nur auf einer verwestlichten Basis artikulieren lässt. Da wimmelt es von jungen Islamisten, die Science-Fiction-Romane schreiben wollen, Mädchen, die ihr Bekenntnis zum Kopftuch als Ausdruck individueller Selbstbestimmung begreifen, aber auch Autoritäten, für die der Bezug auf die westlichen Werte nichts als ein Vorwand ist, um ungestört morden und foltern zu können.

Sehnsucht und Angst

Dazwischen versuchen ehemalige Aktivisten der radikalen türkischen Linken, die sich in den Siebzigern in blutigen Kämpfen aufgerieben haben, ihren tragischen Lebensläufen letzte Tropfen individuellen Sinns abzugewinnen – sei es durch Beteiligung am Putsch oder dadurch, in der islamistischen Haltung der Jugendlichen Funken legitimen Widerstands zu entdecken.

„Mein Roman handelt von den inneren Konflikten heutiger Türken, von den Widersprüchen zwischen Islam und Moderne, von der Sehnsucht, in Europa aufgenommen zu werden – und zugleich der Angst davor“, sagte Pamuk im April in einem Gespräch mit der Zeit. Es ist eine eigentümliche Ironie der Publikationsgeschichte von „Schnee“, dass sich genau dieser Widerspruch in den Lektüren des Buchs spiegelt. Dass ein Autor für Aussagen in einem Interview mit einer ausländischen Zeitung gehasst wird, die nur wenig radikaler sind als das, was ein Roman erzählt, der in der Türkei bei Erscheinen gefeiert wurde. Der Westen im Osten und der Ostens im Westen. So kann man es auch sagen.