ORTSTERMIN: DIE THEATERGRUPPE RIMINI PROTOKOLL SPIEGELT BRAUNSCHWEIG AUF DER BÜHNE : Mr. Einprozent und sein Degen
Mr. Einprozent ist ledig und lebt mit seinen Corpsbrüdern im Verbindungshaus. Er ist in der CDU und hofft, dass die Atomkraft eine baldige Renaissance erfährt. Er lässt sein Geld für sich arbeiten und kann sich gut vorstellen, als Bürgermeister die Stadt zu regieren.
Der Verbindungsmann mit seinen weißen Handschuhen und dem Degen ist kein typischer Braunschweiger, aber unter hundert Braunschweigern gibt es genau einen wie ihn. Wenigstens, wenn man der Versuchsaufstellung der Gruppe Rimini Protokoll folgt, die zum Auftakt des Festivals Theaterformen in „100 Prozent Braunschweig“ ein statistisches Abbild der Stadt zusammengewürfelt hat.
Da stehen sie nun in einem großen Kreis auf der Drehbühne, die hundert Braunschweiger, die jeder knapp 2.500 Einwohner der zweitgrößten Stadt Niedersachsens repräsentieren sollen, 51 Prozent Frauen und 49 Prozent Männer. Angefangen hat alles mit Harald (47), einem Mathematiker der Technischen Universität, der als Keim der Gruppe ausgewählt wurde und seine Frau Petra als nächste Kandidatin vorgeschlagen hat. Harald ist aufgeregt und verspricht sich, als er das Publikum auffordert, das Vorlesungsskript statt das Programmheft aufzuschlagen.
Er ist einer der Wissenschaftler und Lehrenden und damit nicht allein im Bühnenkreis, sondern typisch. Die geraden Biografien der Braunschweiger fallen auf, keine ganz Reichen, auch wenig ganz Arme, die meisten mit einem soliden Beruf und festem Partner. Die Lebenskünstler, Autoren und Medienmenschen sucht man vergebens – die großen Ausschläge fehlen in dieser Stadt, in der auch die 28-jährige, attraktive Lehrerin mit dem Cowboyhut den Partner fürs Leben gefunden hat.
Private Details wie dieses erfährt der Zuschauer im Frage-und-Antwort-Spiel. Denn nachdem jeder der hundert Menschen sich und ein persönliches Requisit kurz vorgestellt hat, müssen alle auf der Bühne Farbe bekennen. „Wer hat Schulden?“, fragt einer und knapp dreißig Menschen hopsen in das Mittelfeld. Oder: „Wer findet, dass die Wiedervereinigung Deutschland insgesamt eher geschadet hat?“ Es sind in Braunschweig über dreißig Prozent, obwohl das ehemalige Zonenrandgebiet wirtschaftlich wie kaum eine andere westdeutsche Stadt von seiner neuen Lage in Gesamtdeutschland profitiert hat.
Die meisten Antworten dieser Fragerunde sind nur begrenzt überraschend. Der Braunschweiger kennt sich ganz gut und mag seine Großstadt. Theater – wie früher – als ein Ort der lokalen Identitätsvergewisserung. Spannender wäre die Konfrontation mit dem Anderen. Warum nicht „100 Prozent Berlin“ nach Braunschweig einladen, und hundert Braunschweiger in die Hauptstadt schicken? Und überprüfen, ob die lebendige Statistik auf der Bühne tatsächlich repräsentativ ist.
Gibt es wirklich knapp 2.500 Mr. Einprozents, die in Verbindungskluft das Braunschweiger Univiertel bevölkern? Tragen nur zwei von hundert Braunschweigerinnen ein Kopftuch? Gibt es keine männlichen dunkelhäutigen Menschen hier? Bei der politisch nicht ganz korrekten Frage „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ jedenfalls flüchten alle hundert. ALEXANDER KOHLMANN
Letzte Vorstellung: Samstag, 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig, Großes Haus