Die konstruierten Verhältnisse des Laptopprekariats

FREIBERUFLICH Kontrollierte Verausgabung und mangelnde Entwicklung in Berlin: Helmut Kuhn beschreibt die „Gehwegschäden“ in der künstlerisch-kreativen Lebenswelt

Die Form ist „Berlin Alexanderplatz“ nachgebildet. Der Held wäre gern so stoisch wie Franz Biberkopf

Auf 450 Seiten erzählt der neue Roman von Helmut Kuhn die Geschichte seines Helden Thomas Frantz, eines freien Journalisten, der, wie man so sagt, in prekären Verhältnissen lebt. Er ist Ende vierzig und lässt sich durchs Großstadtleben treiben. Aber eigentlich lässt er sich nicht treiben, sondern recherchiert viele Sachen. Seine Leidenschaft ist das Schachboxen, eine von dem niederländischen Aktionskünstler Iepe Rubingh erfundene Sportart, bei der Boxen und Schach einander abwechseln. Ein Kampf besteht aus fünf dreiminütigen Box- und sechs vierminütigen Runden für eine Schachpartie.

Anschaulich und in aller Ausführlichkeit beschreibt Kuhn, der diesen Sport auch im echten Leben betreibt, auf den ersten Seiten den Romans das Schachboxtraining im Keller einer Schule. Es geht um kontrollierte Verausgabung, Konzentration, Beinarbeit und die anderen Dinge. Das Schachboxen sei der Sport der prekären Intelligenzija, heißt es irgendwann, was vielleicht doch etwas übertrieben ist – in Berlin betreiben hundert Leute diesen Sport.

Das Prekariat – wenn man es so nennen möchte – ist das der freiberuflichen Autoren, deren Arbeitsmöglichkeiten via Internet zwar größer geworden sind, die aber relativ weniger verdienen als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Die wenn sie jung sind, von Praktikum zu Praktikum hüpfen und sich unabhängig vorkommen, wenn sie im Café Oberholz an ihren immer gleichen Laptops sitzen. Die am Rande des Dispos leben und manchmal Besuch von Gerichtsvollziehern bekommen, deren Auftraggeber auch mal gern viel mehr berechnen, als ihnen eigentlich zusteht. Die, wie der Held, bei ihren Recherchen auf viel Elend stoßen.

Thomas Frantz besucht: Neuköllner Wettbüros, die ehemalige SED-Zentrale, die ein britischer Investor luxuriös umgestaltet, ein esoterisches Kabbalismusseminar, einen Swingerclub (vielleicht ist es auch der Kit-Cat-Club). Er redet mit einem türkischen Sozialarbeiter, der ihm von den Jungs einer Jugendgang am Teutoburger Platz erzählt, die sich prostituieren. Ein Media-Markt wird am Alex eröffnet und von den Freunden moderner Unterhaltungselektronik gestürmt. Die Karikatur eines reichen Freundes ruft ab und an an.

Thomas Frantz lebt mit einer gleich alten Frau zusammen und verliebt sich in eine zwanzig Jahre jüngere Frau, die er beim Schachboxen kennen gelernt hat. Am liebsten ist er aber eigentlich mit seinen Kumpels zusammen. Alte Jungs, die sich vor ihrer Lieblingskneipe treffen, weil das Bier in der Kneipe zu teuer geworden ist. Die meisten der Romanfiguren rauchen gerne.

„Gehwegschäden“ ist ambitioniert. Der Roman besteht aus sieben Abschnitten, deren Überschriften den Satz: „Ist Hoffnung Verzweiflung Furcht Überheblichkeit und Zorn gleich Wut?“ ergeben. Die Form ist Döblins „Berlin Alexanderplatz“ nachgebildet. Das Wort „Gehwegschäden“ bedeutet: „hier wird nichts mehr repariert: wir haben resigniert, wir haben uns abgefunden.“ Der Held wäre gern so stoisch wie Franz Biberkopf.

Das Buch besteht aus längeren, teils sehr gut geschriebenen Szenen, die aneinandergereiht wirken. Die Zusammenhänge wirken konstruiert. So nimmt man als Leser nicht so recht teil. Der Held entwickelt sich nicht. Irgendwann hat er es mal mit der Bauchspeicheldrüse und man ist ganz überrascht, weil er doch als Sportler eigentlich gut auf sich achtet. Ein bisschen Spannung entsteht erst bei der Liebesgeschichte, die danebengeht.

Am Ende steht eine minutiös geplante Guerilla-Malperformance als Verbeugung vor dem Künstler und Schachboxerfinder Iepe Rubingh, der die gleiche Aktion auch mal in echt initiierte. Mit Farbeimern fahren die Kunstguerilleros über den Rosenthaler Platz in Berlin; die Farbe wird durch den Straßenverkehr weiter verbreitet. Das wird alles gefilmt und vermarktet. Das Video von der echten Aktion steht auf YouTube.

Es ist nicht gut, wenn so viele neuere Romane über 400 Seiten lang sind. Und weil einen die „Gehwegschäden“ nicht so recht mitreißen, auch wenn sie gut geschrieben sind, denkt man an den vor elf Jahren erschienenen, depressiv leicht verpeilten Roman „Mitte“ von Norman Ohler, der fast ausschließlich am Hackeschen Markt spielte und atmosphärisch so viel dichter war. DETLEF KUHLBRODT

Helmut Kuhn: „Gehwegschäden“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012, 439 Seiten, 22,90 Euro