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Archiv-Artikel

Der Mann im Kopf tritt ab

Ines Burkhardt spielt heute zum letzten Mal den Firs in Tschechows „Kirschgarten“. 30 Jahre lang stand sie im Theater Dortmund auf der Bühne – als Gretchen oder als Don Carlos. Ein Verabschiedung

VON KLAUS COMMER

In der letzten Szene des „Kirschgartens“ von Anton Tschechow stirbt der 87-jährige Lakai Firs in den Trümmern der Gutsherrenwelt. Normalerweise. Auf der Bühne des Dortmunder Theaters dagegen überlebt er. Ein kluger Regie-Einfall von Thomas Krupa, der heute Abend noch eine besondere, von Krupa nicht beabsichtigte Bedeutung erhält: Denn in der Rolle des Firs verabschiedet sich Ines Burkhardt nach 30 Jahren von ihrem Publikum – als Überlebende.

Theater spielen möchte die couragierte Bühnenfrau nach eigenen Worten, bis sie tot umfällt. Doch aus dem festen Team am Hiltropwall scheidet die vom Publikum wie von der Kritik geschätzte Dortmunder Schauspielerin jetzt definitiv aus. Langfristige Spielpläne muss Ines Burkhardt ablehnen: Eine Augenkrankheit erschwert ihr das Agieren auf der Bühne. Mehrfach wurden kurzfristig medizinische Eingriffe notwendig, diese Unwägbarkeiten wollte sie ihren Ensemble-Kolleginnen nicht mehr zumuten. Deshalb hat die längst unkündbare Mimin ihren Vertrag selber aufgehoben.

Diva mit Bodenhaftung

Nun denkt Ines Burkhard an die Spielzeiten im Theater wie BVB-Fans an das Auf und Ab im Stadion. Direktor Guido Huonder riss sie zu künstlerischen Höchstleistungen mit, Jens Pesel füllte die Ränge mit populären Stücken. Wenn mit ihrem Weggang und dem baldigen Abschied von Jürgen Uter das Ensemble verkleinert wird, droht aus Burkhardts Sicht dem Sprechtheater wieder einmal ein Substanzverlust.

Die Scheidende sah ihre Bühne in den besten Zeiten als die eine Sparte neben der Oper, dem Ballett, der Philharmonie und dem Kinder- und Jugendtheater, für dessen Fortbestand sie erfolgreich gekämpft hat. Das Miteinander der Sparten steckte an. Das halbe Leben wohnte sie in Dortmund, begegnete dem Publikum in immer neuen Rollen. Und in der Stammkneipe wissen die Nachbarn, dass sie im Kreuzviertel dazu gehört: Rundfunkleuten hat sie Sprechunterricht gegeben, im Theater Fletch Bizzel vermittelte sie in Kursen Spielfreude und Ausdruckskraft. Zehn oder zwölf, die den Schritt auf die Bühnenbretter wagen wollten, kamen zum Einzelunterricht in ihre Wohnung – alle fanden ein Engagement.

Die Stadt, das Theater, das Publikum – in dieser engen Verbindung ist Ines Burkhardt seit Jahren nicht kapriziöser Bühnen-Star, nicht abgehobene Diva. Sie liebt das Zusammenspiel, die direkte Konfrontation mit dem Publikum. Wohl deshalb drehte sie nur einen einzigen Film: 1985, „Strafmündig“ unter der Regie von Roland Gall.

„Alles passiert im Kopf“

Ines Burkhardt ist 1943 in Österreich nahe Linz geboren, lebte in jungen Jahren in Italien. Sie hat einen schweizerischen und einen deutschen Pass: Auf Schwyzerdütsch unterrichtete sie Grundschüler, bevor sie dem später weltbekannten Harald Kreuzberg Bühnentanz beibrachte. Dann studierte sie an der Folkwang-Schule in Essen, wo sie in den Achtzigerjahren in bestem Hochdeutsch Schauspiel lehrte. Unterdessen hatten Bühnen von Hamburg bis Nürnberg die Schauspielerin engagiert, bevor sie 1975 nach Dortmund kam. Die Jahre dort haben ihren Blick für die Wandlungsfähigkeit geschärft. Im kleinen Dortmunder Ensemble hat sie nicht nur große Frauen-Rollen – wie Gretchen und Grusche, Kattrin und Courage – gespielt, sondern sich auch viel bejubelte Auftritte als Hamlet, Don Carlos oder Narr im „König Lear“ ausgedacht.

„Alles passiert im Kopf“, sagt sie, wenn man sie nach dem Rollen-Verständnis als Mann fragt. Die Kopfgeburten nehmen im Theater konkrete Gestalt an, bekommen Hand und Fuß. Mit einem Lachen erzählt Ines Burkhardt, dass sie die Angst der Mutter Courage so empfunden hat, dass sie sich auf offener Bühne ins Hemd machte.

Ihr Abschied zeigt, dass Burkhardt eine mutige Frau ist. Sie bleibt im Spiel, will ihr Können der nachwachsenden Schauspielergeneration weitergeben. Im Herbst gibt es eine Abschiedsfeier. Von den alten Rollen und Kostümen trennt sie sich dann – mit einer Auktion für Kinder in Rio und an der Ruhr.