„Ich bin zum Wissen konvertiert“

AUFKLÄRUNG Als Kind wurde Hamed Abdel-Samad vergewaltigt. Jetzt hat er ein Buch geschrieben – über Lebenslügen im Namen des Glaubens. Einblick in eine schizophrene Welt

„Ich wünschte mir, mein Gehirn aus der Nase herauszuziehen, um mich von den Gedanken zu befreien“

VON CIGDEM AKYOL

Er erinnert sich gut, wie es war, als er in Frankfurt erstmals Deutschland betrat: „Ich roch Blütenpollen, Alkohol und Schweiß, stark aufgetragene, seelenlose Parfüms. Ich stand vor dem Beamten und bildete mir ein, dass er zögerte, den Eintrittsstempel in meinen Pass zu drücken. Ich las in seinen Augen: Aha, noch ein Kamelflüsterer, der von unserem Wohlstand profitieren will.“ Das war 1995 und plötzlich bestand das Leben des Ägypters Hamed Abdel-Samad aus lauter Möglichkeiten.

Kurze Zeit später heiratete der 23-Jährige eine 18 Jahre ältere „rebellische linke Lehrerin mit Hang zur Mystik“. Nicht aus Liebe, „sie hatte die Lohnsteuerklasse drei und ich den deutschen Pass vor Augen“. Er begann mit einem Politikstudium in Augsburg, und etwas hielt Einzug in seinen Alltag, das er anfangs unterschätzte: die Orientierungslosigkeit. „War ich mit mir unzufrieden, hielt ich die Deutschen für schreckliche Rassisten. In guten Zeiten waren sie harmlose Friedenstauben.“ Er war nicht vorbereitet auf die Freiheit, „allein der Anblick von Schweinefleisch in der Mensa machte mich wütend. Manchmal habe ich junge Muslime vor Alkohol und Unzucht gewarnt und machte beides selber noch am selben Tag.“

Für seinen Zwiespalt hat er gute Gründe: seine eigene Lebensgeschichte. Hamed Abdel-Samad, 1972 als drittes von fünf Kindern nahe Gizeh geboren, Sohn eines sunnitischen Imams, wurde als Vierjähriger von einem 15-Jährigen vergewaltigt, „vor Angst gelähmt rezitierte ich damals aus dem Koran“. Mit elf wurde er wieder missbraucht, diesmal von fünf Jugendlichen auf einem Friedhof. Da gebe es noch eine Szene aus seiner Kindheit, an die müsse er immer wieder denken: Seine Mutter kniete vor dem Vater, schützte nur ihr Gesicht und ließ sich von ihm mit Füßen und Händen schlagen. Sie unterdrückte ihre Schreie, um nicht zu provozieren; nachdem er genug hatte, stand sie wortlos auf. Hamed Abdel-Samad war fromm und bildungshungrig, ein „überzeugter Antisemit“, dann der Aufbruch nach Deutschland, Ausbruch, Zusammenbruch: ein turbulentes Leben, das er nun in einem mitreißenden Buch bilanziert.* Er gewährt einen intensiven Einblick in die schizophrene Welt einer unaufgeklärten Gesellschaft.

Der Ägypter hat ein weiches Gesicht. Es gibt darin keine Kanten, keine Ecken. Dieses Gesicht lässt ihn sanft wirken, sein Händedruck ist so leicht, als hätte er gar keine Knochen. Hamed Abdel-Samad spricht in einem ruhigen, präzisen Ton, mit langen Pausen zwischen den Sätzen, die das Gesagte nachklingen lassen und ein bisschen bedeutender machen. Er will objektiv wirken bei seiner subjektiven Schilderung und wirkt dabei wie eine Mischung aus großem Jungen, Jetsetter und Hochbegabtem. Erst wenn er aufsteht, sieht man, was das Leben mit ihm angerichtet hat: seine Körperhaltung ist sehr geduckt.

Hamed Abdel-Samads Biografie bündelt viele hässliche Wahrheiten über eine Gesellschaft, die den Islam als Feigenblatt für ihr menschenverachtendes System benutzt. Er kritisiert seine Heimat, weil sie „die Ehre der gesamten Familie direkt zwischen den Beinen der Frau platziert“. Er erzählt von Augsburger Kommilitonen, die „typisch sind für viele Araber und Einwanderer aus der islamischen Welt“: „Schimpfen über Deutschland, lassen aber keine Gelegenheiten aus, von hier zu profitieren, mit Stipendien und Zuschüssen für Bücher“. Er beschreibt einem Imam in einer süddeutschen Moschee, der über die ungläubigen Deutschen schimpfte.

Doch bei dieser Kritik bleibt es nicht. Hamed Abdel-Samad geht noch weiter: Es ist die Unantastbarkeit der Religion selbst, die er in Frage stellt. „Sollte in der momentanen Situation das Schicksal der Welt in muslimischer Hand liegen, dann würden wir eine islamische Schlachtung von ungeahnter Dimension veranstalten“, befürchtet er. Ob sein Buch ein Feldzug gegen den Islam sei? Nein, er wünscht sich einen aufgeklärten Islam, eine Religion, die sich der Vernunftkritik unterwirft, keine, die jegliche Hinterfragung als Kriegserklärung betrachtet.

In Deutschland begann Hamed Abdel-Samad ein anderes Ich zu suchen. An der neuen Freiheit ist er gründlich gescheitert. Der Mann lebte zerrissen zwischen bedingungslosem Lebenswillen und Resignation, zwischen der Liebe für seine Heimaterde und schäumender Wut auf jene, die diese mit Verderben tränken. In Kairo war er für kurze Zeit Mitglied der Marxisten, später der Muslimbrüder, einer in Ägypten verbotenen Vereinigung von Fundamentalisten, deren Lehren die Islamisten in der ganzen Welt inspirieren. Warum er da mitmischte? „Das Motto „Islam huwall“, der Islam ist die Lösung, gab mir eine klare Orientierung. Und Parolen wie ‚Der Islam braucht Männer, die niemanden außer Allah fürchten‘, vermittelten mir das Gefühl, erwachsen geworden zu sein.“ In Augsburg schloss er sich religiösen muslimischen Studenten aus England an, „und ohne es zu merken, wurde ich zum Missionar. Aber damals hätte ich mich jeder Gruppe angeschlossen, ob sie Zeugen Jehovas oder Scientologen gewesen wären. Ich brauchte eine Gemeinschaft, um Entwurzelung, Enttäuschung und Ratlosigkeit zu verdrängen.“ Aber die Ablenkung und Zeit haben gar nichts geheilt. Im Gegenteil, sie wurden zu seinen Feinden.

Was auf den Ägypter niederging, war nicht nur der Zorn auf sich selbst, Hamed Abdel-Samad muss bezahlen für ein von Vergewaltigern zerstörtes Leben, seine Leidensfähigkeit war nun endgültig erschöpft. Er litt an Amnesie, Bandscheibenvorfall und Magenblutungen, hörte Stimmen und hatte Halluzinationen, trug „unerträgliche Schmerzen im Herzen“ und musste schließlich in die Psychiatrie. Hier biss er in ein Wasserglas, verschluckte die Scherben und wollte sich mit einem Telefonkabel erhängen. Irgendwann habe er verstanden, wenn er sich nicht bald von der Schleppe seiner Vorurteile befreie, von simplen Schwarzweißmalereien, könne er seine Zukunft vergessen. Gesund werden im Rausch der Religion mit Nähe zu radikalen Gruppen, das funktionierte nicht. „Manchmal wünschte ich mir, mein Gehirn aus der Nase herausziehen zu können, wie es die alten Ägypter beim Mumifizierungsritual taten, um es danach aus dem Fenster werfen und endgültig von den quälenden Gedanken befreit zu sein.“

Langsam verändert sich seine Haltung. Nach seiner Entlassung geht er nach Japan, „meine nächste Flucht“, und lernt dort seine große Liebe und jetzige Ehefrau kennen: Connie, eine langhaarige Schönheit, deren Mutter Japanerin und der Vater Däne ist. Er beendet sein Studium, arbeitet bei der Unesco in Genf. Heute forscht der frühere Antisemit am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität in München und schreibt an seiner Dissertation zu dem dem „Bild der Juden in ägyptischen Schulbüchern“. Hamed Abdel-Samad schämt sich für den islamischen Judenhass, „ich glaube, wir sind den Juden vollkommen gleichgültig, wenn wir nicht gerade ihre Busse in die Luft jagen. Sie sind uns wichtig, weil sie uns mit unserer ewigen Scham konfrontieren, nicht vom Fleck zu kommen. Dafür hassen wir die Juden.“

Er ist jetzt gerade einmal 37 Jahre alt und hat schon so viele Umwege hinter sich, was macht das mit einem Menschen? „Sartre sagt, die Hölle seien die anderen. Für mich liegt die Hölle in mir.“ Vom Glauben abgewendet hat er sich nicht. „Das muss ich nicht“, antwortet er entschieden.

Bis heute kann er den Koran auswendig, findet, dass es „ein tolles Buch ist, mit einer sprachlichen Musikalität“. Aber seine Sichtweise hat sich geändert. Es gebe durchaus kritische Stellen im Koran, vor allem was die Gleichberechtigung der Frauen anbelange. „Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass die Suren Auslegungssache seien. Diese Tricks habe ich früher auch benutzt“, sagt er ungefragt und lächelt. Wie er seinen Glauben beschreiben würde? „Ich bin ein Muslim, der vom Glauben zum Wissen konvertiert ist.“ – „Manchmal kann man meine Beziehung zu meinem Glauben mit einem Muslim vergleichen, der Schweinefleisch isst, aber Wert darauf legt, dass das Schwein nach islamischen Vorschriften geschlachtet wurde.“

Und jetzt das Buch, geschrieben in der Psychiatrie: Was verspricht er sich von dieser Offenlegung? Anteilnahme? Antworten? Gar inneren Frieden? „Dieses Buch ist weder eine Abrechnung mit meiner Kultur noch ein Aufruf zum Glaubensverlust. Ich will lediglich die Widersprüche meines Lebens verstehen.“

Damit hat er hat etwas gestartet, was sich nicht mehr aufhalten lässt. Um nicht als Nestbeschmutzer beschimpft zu werden, veröffentlichte er sein Buch als Erstes in Ägypten und es wurde in Fernsehsendungen besprochen und in allen wichtigen Zeitungen. Ein muslimischer Mann, der von Missbrauch schreibt, der den Islam und das Regime kritisiert, das gab es noch nicht. Eine fundamentalistische Gruppe sprach eine Fatwa gegen Hamed Abdel-Samad aus, er erhielt Drohungen, brauchte Polizeischutz. In seinem Heimatdorf wollten Bewohner das Buch verbrennen. Daraufhin stieg zum ersten Mal nach zwölf Jahren sein Vater auf die Kanzel in der Moschee, um die Freitagspredigt zu halten. Es ist verboten im Islam, die Predigt für persönliche Zwecke zu benutzen, aber das Buch war keine private Angelegenheit. „Wir sollten uns ärgern, weil das, was Hamed geschrieben hat, tatsächlich überall geschieht, und nicht, weil er es geschildert hat“, verteidigte er seinen Sohn.

*Hamed Abdel-Samad: „Mein Abschied vom Himmel“, Fackelträger Verlag, Köln, 19,95 Euro