piwik no script img

Archiv-Artikel

„Verbrechen wurden nicht verfolgt“

Aus Rücksicht auf die eigene Vergangenheit und die Politik des Kalten Krieges hat Italien deutsche Kriegsverbrechen lange nicht verfolgt, meint der Historiker Filippo Focardi

taz: Auch jetzt, nach der Verurteilung der Täter von Sant'Anna di Stazzema, ist wieder die Rede vom „Schrank der Schande“, dessen Existenz über Jahrzehnte die Aufklärung des Verbrechens verhindert habe. Was hat es mit diesem Schrank auf sich?

Filippo Focardi: Wir reden da über etwa 2.000 Ermittlungsakten zu Kriegsverbrechen, die die Nazi-Truppen und ihre italienischen Helfer begangen haben. Diese Akten wurden 1995 zufällig in einem Schrank in der Militärstaatsanwaltschaft Rom gefunden. Dort waren sie 1960 weggeschlossen worden nach der „provisorischen Einstellung“ der Verfahren. Dabei waren die Akten hoch interessant: Sie enthielten Untersuchungsergebnisse aus den Jahren 1944–45, gesammelt von der britischen und der US-Militärpolizei, aber auch von den italienischen Carabinieri.

Die Akten hätten also durchaus zu zahlreichen Anklagen führen können.

Etwa 1.200 Verfahren richteten sich gegen unbekannt, aber 695 Akten enthielten ganz konkrete Hinweise auf die Täter, die oft namentlich bekannt waren.

Warum wurden dann die Verfahren eingestellt?

Die Einstellung war völlig illegal. Im italienischen Recht gibt es die „provisorische Verfahrenseinstellung“ nämlich gar nicht. Damals hing die Militärstaatsanwaltschaft direkt vom Ministerpräsidenten ab. Das weist auf politische Gründe hin.

Aber warum sollte das demokratische Nachkriegsitalien auf die Verfolgung von Nazi-Verbrechern verzichten?

Fakt ist, dass Italien fast völlig darauf verzichtet hat. Bis zu den Sechzigerjahren fanden bloß 12 bis 13 Kriegsverbrecherprozesse statt, mit 25 deutschen Angeklagten. Zum Vergleich: In Frankreich gab es hunderte, im kleinen Dänemark immerhin noch 60 Prozesse. Der erste Grund ist, dass Italien seinerseits die eigenen Kriegsverbrecher der Verfolgung entziehen wollte; so wurden sämtliche Auslieferungsersuchen aus Jugoslawien, Griechenland, Albanien oder Äthiopien abgeschmettert. Aber es gab noch einen zweiten Grund: Italien wollte Adenauer im Kalten Krieg und in der Phase der Wiederaufrüstung gegen den Ostblock keine Schwierigkeiten bereiten.

Gibt es Belege dafür?

Wir haben deutliche Belege. So handelt der CDU-Abgeordnete Heinrich Höfler 1950 in Rom ein Geheimabkommen aus, das zur Freilassung aller bis dahin in Italien verurteilten Nazis führt. Und so schreibt 1956 der italienische Außenminister an den Kollegen vom Verteidigungsressort: Italien muss darauf verzichten, von Deutschland die Auslieferung von Kriegsverbrechern zu beantragen, denn solche Ersuchen bereiteten der Regierung Adenauer Probleme gerade in der Phase der Wiederbewaffnung.

INTERVIEW: MICHAEL BRAUN