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Archiv-Artikel

Rolle vorwärts für Europa

Bei seiner Antrittsrede als Ratspräsident fordert der britische Premierminister Tony Blair eine modernere reformbereitere EU

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Die Debatte über Europas Zukunft hat begonnen. Bei der Vorstellung seines Programms für die kommenden sechs Monate erhielt der britische Premierminister Tony Blair gestern überraschend langen und wohlwollenden Beifall von den Abgeordneten. Sie hatten nur einen Tag zuvor Blairs Vorgänger im Amt des Ratsvorsitzenden, den Luxemburger Jean-Claude Juncker, mit Beifallsstürmen gefeiert. Juncker hatte noch einmal unverblümt Großbritannien dafür verantwortlich gemacht, dass letzte Woche kein Kompromiss für die Finanzplanung bis 2013 zustande kam.

Doch Blair gelang es in seiner Rede, sein Anliegen überzeugend vorzutragen. „In Laeken haben wir beschlossen, Europa näher an die Menschen heranzubringen. In Lissabon haben wir beschlossen, Europa bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Es ist Zeit, unsere Beschlüsse an der Realität zu messen.“ Die Verfassung und die innere Organisation des erweiterten Europas seien wichtig, doch die europäischen Politiker hätten auch eine Neigung, sich hinter institutionellen Fragen zu verstecken, wenn doch politische Führung gefragt sei.

„Wir sollten uns auf die Sorgen der Menschen konzentrieren. Sie sorgen sich um Arbeitsplätze, um Sicherheit, um eine zu hohe Einwanderung.“ 100.000 Frauen würden jährlich in die EU verkauft. Organisierte Kriminalität koste Großbritannien mindestens 20 Milliarden Euro im Jahr. „Was ist das für ein Sozialmodell, bei dem 20 Millionen Menschen in Europa arbeitslos sind, wo die Produktivität hinter die der USA zurückfällt? Wo mehr Wissenschaftler in Indien ausgebildet werden als in Europa? Fachliche Fähigkeiten, Forschung und Entwicklung, Patentanmeldungen, Informationstechnologie – woran auch immer man eine moderne Wirtschaft messen will, Europa fällt zurück. Von den zwanzig Spitzenunis der Welt sind nur zwei in Europa.“

Die Einigung auf ein Budget sei kein Selbstzweck. Man müsse sich klar werden, wie man das Geld ausgeben wolle. „Ob wir das in den nächsten sechs Monaten schaffen, ist unklar.“ Der britische Premier wehrte sich gegen den Vorwurf, er habe in der Nacht zum Samstag überraschend eine Fundamentalkritik an den Agrarsubventionen als Vorwand aus dem Hut gezogen, um eine Einigung zu verhindern. „Ich behaupte nicht, dass man dieses System über Nacht verändern kann. Aber wenn wir uns jetzt nicht darauf verständigen, es in der Halbzeit der kommenden Planungsperiode zu überprüfen, dann fangen wir mit der Debatte erst 2014 richtig an!“

Tony Blair machte deutlich, dass er den Vorwurf, er wolle Europa auf eine Freihandelszone reduzieren, nicht auf sich sitzen lasse. Es gehe nicht um mehr oder weniger, sondern um ein anderes Europa. Großbritannien habe unter seiner Führung einen Wandel erreicht, der auch für andere EU-Länder beispielhaft sein könne. „Da dies der Tag ist, um Klischees zu demolieren: Großbritannien wird nicht von einer kalten Marktideologie beherrscht, die auf den Armen und Benachteiligten herumtrampelt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist bei uns praktisch abgeschafft. Wir haben zum ersten Mal einen Mindestlohn eingeführt. Der Unterschied ist nur: Wir arbeiten auf der Grundlage einer starken Wirtschaft, nicht auf ihre Kosten.“

Martin Schulz, der Chef der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, antwortete seinem Parteifreund Blair: „Es zu einfach, diejenigen, die unser europäisches Sozialmodell verteidigen, ins Museum zu stellen. Es geht nicht um Jobs um jeden Preis, es geht um würdige und sichere Jobs, um eine anständige Entlohnung.“

Sollte Tony Blair den selbstbewussten Führungsanspruch, den er gestern in Brüssel anmeldete, ernst nehmen, dann ist dies keine Garantie, dass Europa in den nächsten sechs Monaten einen Konsens findet. Es würden aber immerhin endlich die richtigen Fragen gestellt.