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Archiv-Artikel

Experiment gescheitert, Partei lebt noch

LINKE Spaltung – dieses Wort liegt auf dem Parteitag in Göttingen in der Luft. Doch dann gelingt den einen doch kein Durchmarsch, und die anderen berappeln sich. Heraus kommt ein Patt. Gespielt wird trotzdem weiter

Das Wahlergebnis

■ Wahl zum Parteichef:1. Wahlgang Dora Heyenn: 29,3 Prozent, Katja Kipping: 61,1 Prozent. 2. Wahlgang Dietmar Bartsch: 45,2 Prozent, Bernd Riexinger: 53,5 Prozent. Stellvertreter: Gewählt: Sahra Wagenknecht: 57,14 Prozent, Caren Ley: 59,4 Prozent, Jan van Aken: 41,3 Prozent, Axel Troost: 46,6 Prozent. Unterlegen: Wolfgang Gehrke, Stefan Lorent, Katharina Schwabedissen. Bundesgeschäftsführer: Matthias Höhn (ohne Gegenkandidaten): 80,9 Prozent. Schatzmeister: Heinz Bierbaum: 39 Prozent. Raju Sharma: 59,9 Prozent. (Gewählte jeweils im Fettdruck)

AUS GÖTTINGEN STEFAN REINECKE

Es ist eine schrille, bizarre Szene am Samstagabend in der Göttinger Lokhalle. Einige Genossen stimmen die Internationale an, steigen auf Tische und Stühle, recken die Fäuste in die Höhe. Die Linkspartei-GenossInnen bejubeln keinen entscheidenden Schlag gegen den Finanzkapitalismus oder wenigstens eine Wahlniederlage der SPD. Gefeiert wird ein Sieg im innerparteilichen Clinch: Der Westgewerkschafter Bernd Riexinger hat soeben mit 53,1 Prozent gesiegt. Und vor allem hat der Ostpragmatiker Dietmar Bartsch, den das Lafontaine-Lager zu hassen liebt, verloren.

Draußen vor der Tür fließen bei einigen Bartsch-Anhängern Tränen. „Grauenhaft und kulturlos“ sei dieser Triumphgesang, so ein Ostpragmatiker. Gregor Gysi zieht wortlos und mit eisigem Gesicht wie ein Geschlagener von dannen. Gysi, der sonst immer alle miteinander versöhnt. Sieger und Besiegte. Die Szene erhellt schlaglichtartig, woran die Linkspartei leidet. Die Leidenschaften schlagen besonders hoch, wenn es darum geht, dem anderen noch etwas mitzugeben. Der Jubelchor wirkt besonders merkwürdig, weil die Westlinke per Delegiertenschlüssel bevorzugt ist: Wenn Ost und West pari-pari Delegierte nach Göttingen entsandt hätten, dann wäre wohl Dietmar Bartsch Parteichef.

Wie soll es nun weitergehen, mit einem Lafontaine-Mann als Sieger und dem geschlagenen Reformer Bartsch? Viel wird davon abhängen, ob der Ver.di-Mann Bernd Riexinger als Lafontaines Vasall auftritt oder auf eigenen Füßen geht. Denn Oskar Lafontaine leistet sich, man muss es so sagen, einen Auftritt, der nur noch Selbstbezüglichkeit und Zerstörung ist. Er redet frei, gestikuliert, rudert mit den Armen, brüllt und agitiert. Was François Hollande in Frankreich tue – 75 Prozent Spitzensteuersatz, Abzug aus Afghanistan, Eurobonds –, das seien „alles Vorschläge der Linkspartei.“ Das ist Lafontaines Grundmelodie: Die Linkspartei macht eigentlich alles richtig. Sie hat die gusseisern richtigen Forderungen. Was stört, ist nur das „Gerede über Befindlichkeiten“. All die internen Konflikte, die Spaltung in Ost und West, Realos und Fundis, sei nur „Verleumdung der Medien“. Erfindungen und „dummes Gerede“. Es ist eine wütende Rede, und Lafontaine, der Wortakrobat, wirkt seltsam hilflos – wie ein wütender Patriarch, der nicht wahrhaben will, dass der Clan nicht mehr auf ihn hört. Und der nicht wahrhaben will, was im Saal eigentlich alle wissen: Die Riss in der Partei ist keine Erfindung der Medien.

„Wenn sich das nicht ändert, dann ist es besser, wenn wir uns trennen“

GREGOR GYSI

Davor redet Gregor Gysi. Gysi-Reden sind Wellnesszone jedes Parteitags. Spontan, mit Scherzen durchsetzt. Aber nicht hier. Gysi liest vom Blatt ab. Es ist eine Abrechnung mit den Westgenossen, die selbstgerecht „nur Kritik am Osten äußern“. So wie Lafontaine. Die Westlinken erinnern ihn an die „die Arroganz des Westens bei der Wiedervereinigung“. Das Lafontaine-Lager als parteiinterne Treuhandanstalt. Gysi zieht eine Bilanz seines eigenen Scheiterns. Hunderte Male hat er die Fusion mit der WASG als Vereinigung „auf Augenhöhe“ gelobt. Jetzt resümiert er: „In der Fraktion herrscht Hass.“ Er ist der Chef der Bundestagsfraktion. Er versucht seit 2005 Brücken zu basteln. Jetzt sagt er: „Ich bin es leid.“ Und dann folgt der Schlüsselsatz: „Wenn sich das nicht ändert, dann ist es besser, wenn wir uns trennen.“ Also Spaltung. Gysi will sie natürlich nicht, aber sie ist denkbar. Was immer unvorstellbar war, rückt in den Bereich des Möglichen.

Darin steckt eine Drohung: Wir, die PDS, können ohne euch, aber ihr, die Westlinke, könnt nicht ohne uns. Lafontaine sitzt in der ersten Reihe und hört regungslos zu. Gysi und Lafontaine waren das Dreamteam der Partei. Der Volkstribun aus dem Westen, der charmante Egomane aus dem Osten. Es ist Geschichte. Jetzt muss die Partei alleine laufen lernen.

Und sie bemüht sich tatsächlich darum, auf eigenen Füßen zu gehen. Nach der Niederlage von Bartsch geben sich die Reformer keineswegs geschlagen. Ihre Devise lautet: „Rücken durchdrücken, Augen nach vorne gerichtet.“ Und aufs Ganze gesehen ist die neue Parteispitze tatsächlich ausgewogener besetzt als die alte. Matthias Höhn, Realo aus Sachsen-Anhalt, wird ohne Gegenkandidat zum Bundesgeschäftsführer gewählt. Auch bei der Wahl der Parteivize zeigt sich, dass viele Genossen lieber Konsens und Mitte als Flügelkader wollen. Schatzmeister wird der Realo Raju Sharma, der sich mit einer furiosen Rede gegen den Saarländer und Lafontaine-Vertrauten Heinz Bierbaum durchsetzt. Schatzmeister klingt unspektakutär, Schatzmeister werden nie in Talkshows eingeladen. „Aber wer die Kasse hat, hat das Sagen“, frohlockt ein Ostler.

SPD unversöhnlich

■ Die SPD hat der Linken Politikunfähigkeit vorgeworfen und sagt ihr den Status einer ostdeutschen Regionalpartei voraus. Auch nach dem Parteitag in Göttingen würden die „hasserfüllten Grabenkämpfe“ weitergehen, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, in Berlin. Volker Beck von den Grünen sagte: „Auf dem Parteitag hat der Lafontaine-Flügel triumphiert, die bundespolitische Bedeutung der Partei befindet sich im Sinkflug“. Die Linke sei „nicht unbedingt anschlussfähiger“ geworden. (dapd/dpa)

Katja Kipping präsentiert sich geschickt als Lösung jenseits der Lager: wählbar für Ostreformer, die ihren offenen Blick auf die Gesellschaft schätzen, und für Westradikale, die sie für ausreichend SPD-fern halten. Es ist seltsam. Eben noch sah die Partei mit fiebriger Angstlust dem Duell zwischen Flügeln entgegen, der Entscheidung, der Katastrophe. Am Morgen danach gibt es nur noch vernünftige Leute, die Vernünftiges sagen. Der hessische Landeschef Ulrich Wilken lobt das Duo Kipping/Riexinger und die gesamte Spitze als eine „gesichtswahrende Lösung“ für alle. „Ich sehe viel mehr Nachdenkliche als Euphorische“ sagt Wilken zu taz. Gerry Woop, Realo aus Berlin, analysiert: „Es gibt ein Patt.“ Also keine Geschlagenen, die auf Rache sinnen, keine triumphierenden Sieger auf rauchenden Trümmern? Ist alles gut?

Dieser Parteitag war eine Art Großexperiment. Was passiert eigentlich, wenn eine Organisation, die aus in Jahrzehnten in Apparaten gestählten Funktionären besteht, plötzlich offene Demokratie spielen soll? Für den neuen Stil war das strömungsübergreifende Frauenduo aus Katja Kipping und Katharina Schwabedissen angetreten. Und gescheitert, zerrissen von den Flügeln. Kippings vollmundige Ankündigung, nur mit der NRW-Linken gewählt zu werden, war nichts wert. Schwabedissen zieht am Samstagabend eilig ihre Kandidatur zurück – unter dem Druck des linken Flügels, der den Gewerkschaftsmann Riexinger an der Spitze will. Das passiert, wenn man (oder vielmehr frau) in strammen Apparaten Piratin spielen will.