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Archiv-Artikel

Im Berg der Erinnerung

Das neue Museum der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem steht seit drei Monaten den Besuchern offen. Ein Gang tief hinein durch die Finsternis ins Licht

VON KLAUS HILLENBRAND

Und denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal [Jad] und einen Namen [Vaschem] geben; einen ewigen Namen, der nicht vergehen soll.“

Jesaja 56,5

Der Gang führt in den Berg. Nackter Beton der Fußboden, so nackt wie die schief geneigten Wände, die sich an ihren Spitzen treffen und ein winziges Stück Tageslicht in den Stollen hineinlassen. Keine Ausstellungstücke begleiten den Weg. Es ist, als ob es immer tiefer hineinginge in den Berg und in die Finsternis.

Sparsam, ganz sparsam beginnt die Schau der Objekte. Nach vielleicht dreißig Metern öffnet sich der Stollen. In den Vitrinen liegen kleine schwarz-weiße Bilder, abgebildet darauf sind fröhliche Menschen. Ein Kind mit Kapuze und Spielkarten auf dem Tisch. Vergilbte Fotos mit Büttenrand, auf denen Strandausflügler zu sehen sind, alte Führerscheine, Personalpapiere. Erinnerungen an Menschen.

Die Bilder stammen aus dem Lager Klooga im nördlichen Estland. Hier mussten ab Sommer 1943 tausende jüdische Zwangsarbeiter und etwa hundert russische Kriegsgefangene in Ziegeleien, Sägemühlen und einer Zementfabrik Zwangsarbeit leisten. Als die Rote Armee unerwartet schnell vorrückte, umstellten SS-Männer am 19. September 1944 das Lager. Mehr als 2.000 Menschen wurden von ihnen erschossen. Doch den Nazis fehlte die Zeit, ihre Tat zu vertuschen. Als die Sowjets neun Tage später das Lager erreichten, fanden sie die Ermordeten, zum Verbrennen aufgeschichtet zwischen Holzstämmen. Und sie entdecken die persönliche Habschaft der Toten – die Fotos, die heute in der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem den Beginn der Ausstellung markieren.

„Berg der Erinnerung“ heißt der höchste Hügel auf dem Gelände der Gedenkstätte schon lange. Nach der Gründung von Jad Vaschem durch die Knesset im August 1953 begann auf diesem Gelände im Jahr 1954 die Einrichtung einer Erinnerungsstätte in Jerusalem. Die erste große permanente Ausstellung wurde 1973 eröffnet. Doch mit der Eröffnung des neuen Museums von Jad Vaschem Mitte März ist die Erinnerung wortwörtlich in den Berg eingezogen. Denn die Ausstellung bohrt sich knapp unter der Erde quer durch diesen Hügel und entlässt den Besucher erst wieder am anderen Ende der natürlichen Erhebung.

„Einen Dialog mit der Ausstellung“ sieht der Direktor von Jad Vaschem, Avner Shalev, in dem Gebäudekomplex. Der in Haifa geborene Stararchitekt Moshe Safdie verbannt die Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Juden ins beklemmende Halbdunkel. Der Besucher erhält den Eindruck, beim Gang durch die Geschichte immer tiefer in das Gestein hinabzutauchen. Von der Achse des Hauptstollens gehen bis zu acht Meter hohe Säle nach links und rechts ab. Sie sind der eigentliche Ort für die Ausstellungsobjekte. Aber immer wieder zwingt der Architekt den Besucher zurück auf die Achse. Auf diese Weise erhält man zugleich einen Orientierungspunkt, wie weit man bereits durch den Berg gestiegen ist.

Fast drei Monate nach der Eröffnung zieht Shalev eine durchweg positive Bilanz der neuen Ausstellung. Die Reaktionen seien „überwältigend“, sagt er. Über 6.000 Besucher würden durchschnittlich pro Tag gezählt, die Mehrzahl von ihnen kommt nicht aus Israel. „Die Überlebenden des Holocaust erkennen ihre Geschichte wieder. Und die Jugendlichen fühlen sich ebenso angesprochen“, so Avmer Shalev.

Tatsächlich bricht die Ausstellung mit der alten Konzeption einer summarischen Geschichtserzählung. Die chronologische Geschichte ist erweitert um eine individuelle Perspektive. Da berichten in vielen Räumen Holocaust-Überlebende auf Videos aus ihrem Leben. Eine gutbürgerlich eingerichtete Wohnstube zeugt von Wohlstand und Integration der deutschen Juden vor der NS-Verfolgung. Bilder, Postkarten und Zeichnungen erzählen vom Schicksal von Kindern. Dazwischen NS-Plakate: „Der Feind besteht nicht aus Soldaten, sondern zum größten Teil aus Bestien“, heißt es da. Im Boden eingelassene Straßenbahnschienen und Pflastersteine wie im Warschauer Ghetto. Die dreistöckige Holzpritsche, auf die sich in Auschwitz dutzende Häftlinge pferchen mussten. Das Quietschen der Wagen eines Deportationszuges ist zu hören, wie die sich überschlagende Stimme Adolf Hitlers bei einer antisemitischen Rede.

Eine Multimedia-Holocaust-Show hätte das werden können, wären die Aussteller nicht äußerst sensibel mit den über 2.500 Objekten und deren Präsentation umgegangen. Doch trotz – oder wegen – des umfassenden Einsatzes von Ton und Video entgeht Jad Vaschem an jedem Punkt der Gefahr, zur Show zu werden. Im „Berg der Erinnerung“ ist ein Labyrinth der Aufklärung über den Schrecken entstanden.

Der Ausstellung gelingt, was in Deutschlands Gedenkstättenbetrieb seit Jahren für erbitterte Kontroversen sorgt. Selbstverständlich steht die Judenvernichtung im Zentrum, doch ebenso selbstverständlich wird an die Ermordung der Sinti und Roma und der Homosexuellen erinnert. „Man sollte auch Informationen über andere Opfergruppen wie Sinti und Roma zeigen“, meint Shalev dazu: „Deren Verfolgung geschah schließlich auch aus rassistischen Gründen.“

Ebenso räumt Jad Vaschem mit dem angeblichen Problem auf, dass man Opfer und Täter nicht gemeinsam zeigen könne. Natürlich kann man das. In Jerusalem geht es zuallererst um die Ermordeten, um den jüdischen Widerstand, um die Vernichtung jüdischen Lebens in Europa. Doch dazwischen findet man immer wieder steckbriefähnliche Tafeln mit den deutschen Mördern, Briefe von Mitgliedern der Einsatzgruppen, die sich ihrer Mordtaten brüsten. Gleich daneben: Bilder der Ermordeten. Ratschläge für Gedenken in Deutschland möchte Museumsleiter Shalev freilich nicht geben. Es sei Sache der Deutschen und nicht der Nachfahren der verfolgten Juden, wie sie mit der Erinnerung über den Holocaust umgehen wollen, erklärt er.

Angesichts der neuen Ausstellung in Jerusalem erscheint es in der Tat dürftig, was in Deutschland zur Erinnerung an den Holocaust und die Nazi-Diktatur aufgebaut worden ist. Jenseits all der KZ-Gedenkstätten, der Wannseevilla, des Berliner Holocaust-Mahnmals, der Topographie des Terrors und anderer, durchaus verdienstvoller Einrichtungen macht Jad Vaschem deutlich, was im Land der Täter fehlt: ein zentrales Museum über die nationalsozialistische Herrschaft, wie es die Historiker Ulrich Herbert und Götz Aly jüngst in die Debatte gebracht haben.

Es ist keiner Museumsdidaktik zuzuschreiben, dass der Gang durch Jad Vaschem immer schwerer wird, je länger er andauert. Dafür sind schon die Nazis verantwortlich. Die Hakenkreuzflaggen zu Beginn der Ausstellung wirken geradezu erträglich im Vergleich zu den 4.000 Schuhen, die – später – als Hinterlassenschaft der Gaskammern von Majdanek gezeigt werden. Die Kämme, Fläschchen, blinden Augengläser und rostigen Blechtassen aus dem Vernichtungslager von Chełmno, das Zuglaufschild Westerbork–Auschwitz („Zug muss geschlossen nach Westerbork zurück“) – ja, man wusste von den Nazi-Taten, hat die Bücher gelesen, die Filme gesehen, die KZ-Gedenkstätten besucht. Aber das?

Am Ende des langen Zickzackwegs durch den Berg liegt rechter Hand eine Kuppel. Im „Saal der Namen“ sind die Wände mit Akten belegt, darin die Namen und das Schicksal von drei Millionen Ermordeten. Noch sind viele Regale leer, um später weitere Opfer aus der Anonymität zu retten. Die vom Tageslicht hell erleuchtete Kuppel ist mit den Bildern von 600 Holocaust-Opfern ausgekleidet, die sich darunter in einem Wasserbecken spiegeln. So wird die Illusion hervorgerufen, die Fotos der Ermordeten reichten bis zum tiefsten Grund der Erde. Wenn ihnen schon kein Grab geblieben ist, so der Eindruck, wird hier zumindest der Ermordeten gedacht.

Zurück auf dem Hauptweg wird es nach wenigen Metern langsam heller – und die Ausstellung öffnet sich zum Heute. Der „Berg der Erinnerung“ ist durchschritten, und auf einem Balkon am Hang bietet sich ein Panorama von Bergen, Wäldern und Gebäuden: die Ausläufer Jerusalems. Es ist dieser grandiose Endpunkt, der den Ausstellungsmachern den Vorwurf eingetragen hat, sie verbänden die Geschichte des Holocausts zu eng mit dem Staat Israel als logischer Konsequenz der Verfolgung des jüdischen Volks.

Museumsleiter Avner Shalev will das Freilichtpanorama aber so nicht interpretiert wissen. „Das ist kein nationaler Code“, erklärt er. Zwar hätte die Hälfte der Überlebenden in Israel eine neue Heimat gefunden – nach oft quälend langen Monaten in den Lagern für „Displaced Persons“ (DPs) und gefahrvoller Reise in überfüllten Schrottschiffen durch das Mittelmeer nach Palästina, wie die Ausstellung ebenfalls anschaulich erläutert. Doch der Blick stehe für die Beibehaltung menschlicher Werte auch nach dem Massenmord, für das Weitergehen des Lebens im positiven Sinne.

Letztendlich, so Shalev, symbolisiere der Blick auf Jerusalem auch die Fragestellung, unter der die gesamte Ausstellung steht: „Was ist deine Verantwortung als menschliches Wesen?“

Museum Jad Vaschem, Jerusalem, Sonntag bis Donnerstag 9–17, Freitag 9–14 Uhr. Eintritt frei. Katalog 100 Schekel (ca. 18 Euro). Unter www.yadvashem.org gibt es auch Zugang zu den Personaldaten von über drei Millionen Ermordeten; E-Mail: general.information@yadvashem.org.il KLAUS HILLENBRAND, Jahrgang 1957, ist Chef vom Dienst bei der taz