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Archiv-Artikel

Eine Frage des Gewissens

Deserteure passen nicht ins patriotische US-Weltbild. Es gibt sie dennoch („Fahnenflucht“, 22.30 Uhr, WDR)

Jimmy Massey hat eine Truppe von 30 US-Elitesoldaten in den Irakkrieg geführt. Jetzt steht der Exmarine in Uniform auf den Straßen seines Heimatorts in North Carolina und hält ein Schild in der Hand. „Ich habe unschuldige Zivilisten für unsere Regierung getötet“ ist darauf zu lesen. Als er von einer jungen Frau dafür zur Rede gestellt wird, erzählt er ihr die Geschichte von einem kleinen Jungen, den er erschossen hat. Viel fällt der jungen Frau da nicht mehr ein.

Autor Michael Welch zeigt mit seiner Doku „Fahnenflucht“ eindrucksvoll, wie zerrissen die USA sind, sobald es um ihre Soldaten geht. In einem texanischen Baseballstadion werden 3.000 junge Soldaten in den Irak verabschiedet: mit Popmusik, La-Ola-Wellen und vielen Tränen. Texas feiert seine Soldaten wie Volkshelden. Deserteure oder traumatisierte Kriegsheimkehrer haben in dieser Inszenierung keinen Platz. Welch zeigt in schneller Folge Kriegsaufnahmen aus dem Irak und Fahnen schwingende Kinder im Baseballstadion, die stolz ihre Väter in den Krieg ziehen sehen. Beides gehört zusammen. Aber auf der anderen Seite lässt Welch die Fahnenflüchtigen zu Wort kommen. Ruhig und mit kleinen Gesten erzählen sie, warum sie kein Teil dieser skurril patriotischen Armee mehr sein wollen. „Die machen dich zu Kampfmaschinen, damit du ohne Gewissen tötest.“ Carl Webb ist einer von mehr als 6.000 Deserteuren der US-Armee, die sich lieber nicht im Irak abschlachten lassen. Acht Jahre war er in der Armee. Am Schluss hat Webb in der Nationalgarde gedient. Kurz vor seiner Entlassung sollte er in den Irak gehen. Da ist er abgehauen. Jetzt sitzt er in einem heruntergekommen Hotel in Tennessee und überlegt, ob er sich stellen soll. Fünf Jahre Haft drohen Deserteuren in den USA. „Besser als eineinhalb Jahre im Irak kämpfen“, sagt Webb.

Der Fallschirmspringer Jeremy Hinzman hat sich da lieber gleich ganz abgesetzt. Mit seiner Familie ist der 26-Jährige nach Kanada geflüchtet und hat Asyl beantragt. „Zu Hause müsste ich mich vor einem Kriegsgericht verantworten“, sagt Hinzman. „Präsident Bush ist der Oberbefehlshaber der Armee und des Kriegsgerichts. Ich halte ihn für einen Hooligan und vor ein Hooligan-Gericht geh ich nicht.“

Im texanischen Baseballstadion hat man für solche Argumente wenig Verständnis. „Die Drückeberger sollte man alle einsperren“, schnauzt ein Soldat in die Kamera. Er weiß noch nicht, was ihn da im Irak erwartet. Jimmy Massey weiß es besser. Der Mann, der den kleinen Jungen getötet hat, nimmt täglich sechs Psychopharmaka, damit er nicht durchdreht. „Wenn Amerika jeden Tag die Bilder im Fernsehen sehen müsste, die ich jeden Tag im Kopf sehe, wäre der Krieg noch am gleichen Tag vorbei.“ PHILIPP DUDEK