: Die Bändigung des Staates
Die Exekutive soll nicht der Weltwirtschaft dienen, sondern allein dem Gemeinwohl
ist Robert S. Lynd Professor für Soziologie an der Columbia University. Von ihr ist zuletzt erschienen: „Das Paradox des Nationalen“ (Suhrkamp Verlag 2008).
VON SASKIA SASSEN
Die führenden Staaten haben enorme Summen von Steuergeldern in die Wirtschaft gepumpt, so dass man auf die Idee kommen könnte, wir sähen die Rückkehr eines starken Staates – von den USA über Deutschland bis nach China. Ich möchte dieser Empfindung drei Umstände entgegenstellen, die – so sie zusammenkommen – Verwirrung stiften, wo genau der Staat heute zu verorten sei.
1. Der Einsatz von Staatsgeldern, um das internationale Finanzsystem zu retten
Der erste, deutlichste und sichtbarste Umstand liegt genau in der Rolle des Staates, der das Geld der Steuerzahler in die Wirtschaft pumpt. Jedes Land hat seine eigene Art gefunden, diese Milliarden unterzukriegen – doch alle haben es getan. Die Steuergelder der einzelnen Staaten werden jedoch meist zur Rettung von global agierenden Banken eingesetzt. Dem gegenüber dürften die Rettungspakete für die Autobauer der Binnenwirtschaft weit mehr helfen, obwohl die hierfür eingesetzten Summen deutlich geringer sind.
Sehen wir etwa eine Rückkehr zum Staat als Verteidiger seiner Volkswirtschaft, weil die US-Regierung zwei Billionen Dollar in eine begrenzte Zahl von international bedeutenden Banken investierte? Nein. Hätte die US-Regierung eine Billion Dollar in die mehr als 7.000 kleinen Banken investiert, dann wäre der Großteil des Geldes innerhalb des Landes in Umlauf geblieben. So wäre dieses Kapital tatsächlich in die Binnenwirtschaft geflossen. Dennoch investierte die US-Regierung kein Geld in diese kleinen Banken – weder unter Bush noch unter Obama.
In Deutschland liefen die Dinge etwas besser. Zum Teil auch, weil der Grad der Finanzialisierung, also der Vorherrschaft des Finanzwesens, dort deutlich geringer ausfällt als in den USA oder Großbritannien: Die Summe der Finanzaktiva in Deutschland beträgt im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) 260 Prozent. In Großbritannien und den USA beträgt dieses Verhältnis jeweils 450 Prozent. Auch hat die deutsche Regierung mehr Ressourcen in die Industrie gesteckt, schließlich spielt Deutschland eine Schlüsselrolle als großer Exporteur. Dennoch – auch in Deutschland ging viel vom Steuergeld in hoch globalisierte Bereiche.
Was sagt uns dies über die Rolle des Staates? Zwei Dinge – Erstens: Ja, der Staat spielt eine wichtige Rolle in der Wirtschaft. Zweitens: Nein, es ist nicht unbedingt eine Rolle, in der Firmen und Märkte innerhalb des Landes gestützt werden. Im Gegenteil – der Großteil der Steuergelder wurde für die Stützung des internationalen Finanzsystems aufgebracht.
Die große politische Frage ist: Wollen wir eine Volkswirtschaft behalten, die so abhängig vom globalen Finanzsystem ist? Wollen wir eine Volkswirtschaft wie die Großbritanniens oder der USA, in der die Relation der Finanzaktiva zum BIP 450 Prozent beträgt? Kann diese Art von Finanzsystem umgewandelt werden hin zu mehr inländischem Wachstum mit der Zielstellung, die heimische Wirtschaft zu stärken und hier für mehr Arbeitsplätze zu sorgen?
2. Die globale Wirtschaft hat zur Macht der Exekutive beigetragen und die Parlamente und die Wohlfahrt geschwächt
Der zweite Umstand, der zu Verwirrung über die Rolle des Staates führt, ist folgender: Obwohl der Neoliberalismus den Staat tatsächlich geschwächt hat, hat er auch zu einem Erstarken der Exekutive geführt. Dabei wurde der sehr generellen und allgemeinen Schwächung von Staaten viel Aufmerksamkeit geschenkt. Tatsächlich hat die Legislative ebenso an Macht verloren wie die Ministerien, die sich mit der Wohlfahrt beschäftigen. Leicht wird aber übersehen, dass die Entwicklung von einer globalen Wirtschaft in Kombination mit einer neoliberalen Politik die Exekutive weiter gestärkt hat. Dieser Prozess begann in den 1980er-Jahren, als die derzeitige Phase der Globalisierung in Schwung kam, und er hat sich seitdem fortgesetzt. Und diese Stärkung in der Exekutive und die Schwächung der anderen Teile der Regierung fand unabhängig davon statt, welche Partei gerade an der Macht war. Weshalb? Weil dies einen tiefgreifenden strukturellen Trend im liberalen Staat darstellt.
Lassen Sie mich am Beispiel der USA einige Merkmale dieser strukturellen Veränderung erklären: Meine Forschung hat mindestens fünf Trends identifiziert, die zur Macht der Exekutive beitragen:
(1) Einige Bereiche der Verwaltung (Finanzministerium, Zentralbank, Handel) wurden aufgrund der Globalisierung stärker. Ihr wachsender Einfluss wiederum führt zum Erstarken der Exekutive. Dieses Muster wiederholt sich auf der ganzen Welt, da Staaten in die globale Wirtschaft integriert werden. Ein Beispiel: Obwohl die Rechtsform eines globalen Unternehmens nicht als juristische Person existiert, sind beinahe 300.000 Firmen in der ganzen Welt genau so verfasst. Wie kann das sein? Weil weltweit ein Staat nach dem anderen Richtlinien ein- und umsetzen, die eine Art entnationalisierten Raum für den Betrieb von ausländischen Unternehmen in ihrer Binnenwirtschaft schaffen – ein Prozess, der viel weiter reicht, als es die Begriffe „Privatisierung“ und „Deregulierung“ suggerieren. Wegen dieser Rolle in der Entwicklung eines entnationalisierten Raums für „globale“ Unternehmen haben diese Teile der Nationalstaaten an Macht gewonnen.
(2) Zugleich beseitigt diese Politik der Deregulierung verschiedene Kontrollfunktionen der Legislativen. Je stärker eine Wirtschaft neoliberalisiert ist, umso stärker wird die Exekutive und umso schwächer die Legislative. Hier hatte Deutschland, zumindest bis vor Kurzem, ein interessantes Potenzial: Eine starke politische Plattform wie die der Grünen war tatsächlich in der Lage, diese strukturelle Veränderung hin zur Exekutive zu umgehen, indem ein politisches Programm entwickelt wurde. Wir sahen – eine Zeit lang – das Zusammentreffen zweier klassischer Titanen: der globale Unternehmenskapitalismus gegen die Politik für einen radikalen sozioökonomischen Wandel.
(3) Die großen globalen Regulierungsinstanzen, allen voran der Internationale Währungsfonds und die Welthandelsorganisation sowie viele weniger bekannte, verhandeln nur mit Exekutiven. So wuchs gleichzeitig mit der Ausbreitung der globalen Wirtschaft und dem supranationalen System seit den 1980er-Jahren die Macht der Exekutive – unabhängig davon, welche Partei an der Regierung war.
(4) Zwischenstaatliche Netzwerke wuchsen in den letzten zwanzig Jahren stark an. Sie gehen längst über Bereiche wie die internationale Sicherheit hinaus. Die Teilnahme des Staates bei der Schaffung eines globalen Wirtschaftssystems hat zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen spezialisierten Regierungsstellen geführt, die sich hauptsächlich mit der Globalisierung von Kapitalmärkten, internationalen Standards jeglicher Art (für das produzierende Gewerbe, die Finanzbuchhaltung etc.), Wettbewerbspolitik und der neuen Handelsordnung befassen. Diese zwischenstaatlichen Netzwerke sind hauptsächlich in den Exekutiven angesiedelt.
(5) Hinzu kommt ein Trend, der in den USA am stärksten ist und sich hoffentlich nicht in den EU-Ländern in dem Maße durchsetzen wird: die Privatisierung. Sie war ein wesentlicher Bestandteil der Deregulierung in den USA zu Beginn der 1980er-Jahre. Wahrscheinlich sind die Privatisierung von Gefängnissen und das Auslagern von Wohlfahrtsfunktionen an private Anbieter die bekanntesten Beispiele. Heute können wir das Outsourcen von militärischer Leistung an Privatunternehmen sogar in Kampfgebieten wie im Irak hinzufügen. Diese Privatisierungen haben die Kontrollfunktion des Kongresses vermindert, aber die Rolle der Exekutiven durch spezialisierte Kommissionen aufgewertet.
Die verschiedenen Arten von Machtzuwachs für die Exekutive sind keine Ausnahmen. Sie sind strukturelle Entwicklungen innerhalb des liberalen Staates, die aus der Umsetzung einer globalen Wirtschaft stammen. Der liberale Staat war intern niemals so ausgewogen, wie die Doktrin es glauben machen möchte. Aber wir können ein noch größeres Ungleichgewicht zwischen der relativ privaten Macht der Exekutive und der offenen und potenziell demokratischen Gewalt der Legislative sehen. Hier haben wir Bürger den stärksten legalen Hebel in unseren liberalen Demokratien. Ein ausgehöhlter Kongress, beschränkt auf Innenpolitik, schwächt die politische Kraft der Bürger, Rechenschaft von einer zunehmend global orientierten Exekutive zu verlangen. So produziert der liberale Staat heute sein eigenes demokratisches Defizit.
Viel wurde bisher von Politikern über die globale Firmen gesagt, die den Staat seiner Macht und seinem Willen zur Demokratie berauben. Das ist sicher passiert. Doch es gibt eben auch den anderen Umstand: eine selbst zunehmend undemokratische Exekutive.
3. Können wir diesen aufkommenden Internationalismus innerhalb der Nationalstaaten für bessere Ziele nutzen?
Der dritte Umstand, der zu der Verwirrung beiträgt, ist der größere Internationalismus der Exekutiven aufgrund der zuvor genannten Trends. Die Geschichte des liberalen Staates war eine von Nationalismus und Kolonialismus. Die goldene Ära der keynsianischen Jahre hatte den Schutz der Binnenwirtschaft zum Ziel. Ich zweifele daran, dass wir dorthin zurückkehren können. Außerdem sind einige der größten Herausforderungen globaler Art. Sie fordern eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, um dem weltweiten Hunger zu begegnen, der Ausbreitung von Krankheiten, um die Umwelt zu schützen, um der massiven Verletzung von zivilen Rechten in allen Kriegsgebieten entgegenzutreten etc.
Es gibt viele Aufgaben, bei deren Lösung von der Zusammenarbeit der Regierungen profitiert werden könnte: In den 80er- und 90er-Jahren haben die Exekutiven und ihre Behörden weltweit gelernt, wie es funktioniert – etwa als Finanz-, Buchhaltungs- und ähnliche Standards eingeführt wurden. Sie könnten dieses Wissen nun für ehrenwertere Anlässe nutzen.
Europäische Staaten haben einen enormen Vorteil, wenn es um Strukturen für internationale Politik geht: die EU. Aber der spezialisierte Internationalismus, den die wichtigsten Akteure in den Exekutiven und auch in den ihr angegliederten Behörden während der letzten zwei Jahrzehnte gelernt haben, um eine globale Wirtschaft zu entwickeln, ist auch schon außerhalb der EU am Werk. Es ist dieser tiefe strukturelle Trend, der auch Länder wie etwa die USA und Brasilien erfasst hat.
Die Herausforderung liegt nun darin, diesen aufstrebenden Internationalismus der Exekutiven, der bisher zur Unterstützung der globalen Wirtschaft und zu neuen Arten von Kriegen genutzt wird, umzulenken. Ist das möglich? Ja. Aber wir müssten dazu Besitz von unserer jeweiligen Exekutiven nehmen. Es ist Zeit, ernsthaft Politik zu machen – weit über den üblichen Partytalk hinaus.
Übersetzung: Natalie Tenberg
Nächsten Samstag: Norbert Bolz über den Staat und wie dieser den Kapitalismus vor sich selber retten kann. Bisher erschienen: Harald Welzer: „Die Kultur der Aufmerksamkeit“ (5. September)